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15.01.21 / Das Kaiserreich und wir / Mehr als hundert Jahre nach dem Ende der Monarchie in Deutschland ist die Beurteilung der Zeit zwischen 1871 und 1918 entspannter geworden. Das eröffnet die Möglichkeit für eine Betrachtung der erstaunlichen Parallelen zwischen dem Reich und der Bundesrepublik

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 02-21 vom 15. Januar 2021

Das Kaiserreich und wir
Mehr als hundert Jahre nach dem Ende der Monarchie in Deutschland ist die Beurteilung der Zeit zwischen 1871 und 1918 entspannter geworden. Das eröffnet die Möglichkeit für eine Betrachtung der erstaunlichen Parallelen zwischen dem Reich und der Bundesrepublik
Christoph Nonn

Vor 150 Jahren wurde das deutsche Kaiserreich gegründet. Seit seinem Ende in der Revolution von 1918 schwankt seine Beurteilung von einem Extrem ins andere. Während der vier Jahrzehnte, die auf seinen Untergang folgten, galt das Kaiserreich vielen als „gute alte Zeit“. Schließlich hatten die Deutschen zwischen 1871 und 1914 eine bis dahin beispiellos lange Zeit ohne kriegerische Verwicklungen genossen, in der es wirtschaftlich beständig bergauf gegangen war. Wer das miterlebt hatte, der dachte in einer Ära der Weltkriege und Wirtschaftskrisen wehmütig daran zurück. 

Erst mit dem Ende des Wiederaufbaus und dem Durchbruch des „Wirtschaftswunders“ Ende der 1950er Jahre überstieg der Wohlstand wieder den, der am Vorabend des Ersten Weltkriegs erreicht gewesen war. Etwa gleichzeitig stellte sich die zweite deutsche Demokratie, die Bundesrepublik, im Gegensatz zum Weimarer Experiment als dauerhaft stabil heraus. Jetzt rückte die autoritäre politische Struktur des Kaiserreichs, sein Mangel an Parlamentarismus, seine Klassengesellschaft in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit. Aus der „guten“ wurde eine „schlechte alte Zeit“. Zudem fragten die Deutschen nun verstärkt nach den historischen Wurzeln des Nationalsozialismus und fanden sie nicht zuletzt im Kaiserreich.

Heute lebt niemand mehr, der die Zeit vor 1914 noch bewusst miterlebt hat. Selbst die Zahl der Zeitzeugen des Nationalsozialismus schrumpft rapide. Mehr als hundert Jahre nach dem Ende des Ersten und fünfundsiebzig Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs ist das historische Urteil über das Kaiserreich differenzierter geworden. Die Beschäftigung mit ihm taugt kaum noch als Positiv- oder Negativfolie, die dem Heute vorgehalten wird, sie eignet sich wenig zur Diskreditierung der Gegenwart oder zur Legitimation von Zukunftsentwürfen. Ein entspannterer Umgang mit der Zeit von 1871 bis 1918 ermöglicht es aber mittlerweile, jenseits von solcher Geschichtspolitik aus Parallelen zwischen damals und heute Schlüsse zu ziehen.

Außenpolitische Parallelen

Auf den ersten Blick hat zwar die heutige Bundesrepublik mit dem Kaiserreich wenig gemeinsam. Es lassen sich aber durchaus einige Parallelen zwischen der damaligen Zeit und der Gegenwart ausmachen. Die wohl offensichtlichste dieser Parallelen ist eine außenpolitische. Sie ergibt sich aus der Rolle, die Deutschland nach 1871 in Europa spielte. Mit dem Deutschen Reich entstand damals eine hegemoniale Macht in der Mitte des Kontinents. 1990 hat sich die Geschichte wiederholt. Durch die Wiedervereinigung wurde die Bundesrepublik das Schwergewicht der Europäischen Union und ist es bis heute noch mehr geworden. Deutschland rückte damit, ob man das nun begrüßt oder nicht, zu einem Global Player nicht allein in wirtschaftlicher, sondern gleichermaßen in politischer Hinsicht auf. Auch das geschah nach 1871 schon einmal.

Sogar die Umstände, die diese Konstellation entstehen ließen, waren ähnlich. Die Reichsgründung von 1871 war keine ausschließlich deutsche Angelegenheit. Andere Europäer in anderen Ländern haben dazu, dass sie möglich wurde, ebenfalls ganz wesentlich beigetragen – durch das, was sie taten, oder auch durch das, was sie unterließen. In dieser Hinsicht gibt es ebenfalls Parallelen zwischen 1871 und der Vereinigung von 1990. In beiden Fällen stand eine angelsächsische Weltmacht dem Einigungsprozess wohlwollend gegenüber. In beiden Fällen war die östliche Flügelmacht Europas, Russland, anderweitig und vor allem mit sich selbst beschäftigt. Die zwei wichtigsten anderen europäischen Mächte – Frankreich und Österreich 1871, Frankreich und Großbritannien 1990 – lehnten die deutsche Einigung zumindest anfangs eher ab, ohne sie freilich verhindern zu können. Sie arrangierten sich dann aber wenigstens teilweise – wie Österreich nach 1871 und Frankreich nach 1990 – mit dem neuen deutschen Nationalstaat in der unmittelbaren Nachbarschaft, sodass aus argwöhnischen Nachbarn bald enge Freunde wurden.

Noch in einer anderen Hinsicht waren Reichsgründung wie Wiedervereinigung keine spezifisch deutsche Sache. Sie waren vielmehr Teil eines Prozesses der Bildung von Nationalstaaten, die ganz Europa erfassten. Während des 19. Jahrhunderts veränderte der Kontinent durch die Gründung von insgesamt elf neuen Staaten grundlegend sein Gesicht. Mehr als die Hälfte dieser Gründungen fand in den 1860er und 1870er Jahren statt. Die Entstehung des Deutschen Reiches lag chronologisch wie geographisch dabei im Zentrum, und es war der größte der neuen Nationalstaaten – aber beileibe nicht der einzige. Auch die zweite deutsche Einigung Anfang der 1990er Jahre war wieder Teil eines europäischen Prozesses: Abermals bildeten sich in einem Schub ein Dutzend Nationalstaaten neu, als der Ostblock und mit ihm einige seiner Mitgliedsländer zerfielen.

Internationale Verflechtungen

Modellcharakter für die deutsche Politik nach 1990 hatte das Konzept der außenpolitischen „Saturiertheit“ des Reiches, die Bismarck seit 1871 verkündete. Nach dem Vorbild des ersten Reichskanzlers damals schloss auch die politische Führung des wiedervereinigten Deutschland ausdrücklich und demonstrativ jede weitere territoriale Expansion aus. Nach 1871 wie 1990 wurde auf diese Weise den Nachbarn die Angst vor dem neuen politischen und wirtschaftlichen Schwergewicht in der Mitte Europas genommen. Der Verzicht des neuen Kolosses im Zentrum des Kontinents auf aggressive Machtpolitik wirkte jeweils international entkrampfend. In der Folgezeit trug noch weiter zur Entspannung bei, wie bereitwillig sich Deutschland nach 1871 wie nach 1990 in wachsende politische und wirtschaftliche Verflechtungen einbinden ließ, ja diese selbst anregte.

Auf längere Sicht wurden die grenzüberschreitenden wirtschaftlichen Verflechtungen allerdings teilweise auch zur Belastung für die internationalen politischen Bindungen. Denn Deutschland, zum wichtigsten Umschlagplatz für den Warenaustausch auf dem europäischen Kontinent geworden, nutzte diese Schlüsselstellung auf Kosten seiner Nachbarn aus. Unter Bismarck ging das Deutsche Reich 1879 zu einer Politik hoher Schutzzölle über. Diese Politik war in vielfacher Hinsicht fragwürdig. Sie trübte die Beziehungen zu anderen europäischen Staaten, vor allem zu Russland, das auf Agrarexporte nach Deutschland angewiesen war. Sie verhinderte eine wirtschaftliche Arbeitsteilung auf dem Kontinent, die letztlich allen zugutekam. Und sie behinderte sogar die Weiterentwicklung der deutschen Industrie. Mit rationaler Wirtschaftspolitik hatte das alles nichts zu tun. Bismarcks Motiv war vielmehr, den landwirtschaftlichen Interessen durch Zollschutz einen Dienst zu erweisen und sich so ihrer Unterstützung zu versichern.

Auch darin kann man manche Parallelen zur heutigen Situation erkennen. Das deutsche Kaiserreich betrieb eine nationalegoistische Wirtschaftspolitik zum einseitigen Schutz der deutschen Landwirtschaft vor Agrarimporten. Das erwies sich für die internationalen Beziehungen des Deutschen Reiches zu seinen europäischen Nachbarn als nachteilig. Heute betreibt die Bundesrepublik Deutschland eine nationalegoistische Wirtschaftspolitik zur einseitigen Förderung der deutschen Exporte. Bei der Lohn- und Arbeitsmarktpolitik, bei der Finanzierung der Energiewende und in vielen anderen Bereichen wird die deutsche Exportwirtschaft auf Kosten der Verbraucher und des Binnenmarkts bevorzugt. Das hat zwar die Zahl der Arbeitsplätze erhöht. Die soziale Ungleichheit in der Bundesrepublik ist dadurch allerdings beträchtlich angewachsen. Vor allem aber führt es zu gewaltigen Außenhandelsüberschüssen. Damit hat Deutschland sich nicht eben Freunde in Europa gemacht – ähnlich wie durch die Hochschutzzollpolitik in der Zeit Bismarcks. Ökonomisch war das ein zweischneidiges Schwert. Genauso wie die Begünstigung der heute zentralen exportindustriellen Interessen.

Innenpolitische Versuchungen

In der Innenpolitik sind die Parallelen weniger offensichtlich. Anders als in der parlamentarischen Demokratie der Bundesrepublik lag das Machtzentrum im Kaiserreich beim Monarchen und dem von ihm ernannten Kanzler. Der demokratisch gewählte Reichstag war zwar ein zunehmend populäres Forum der Nation, aber nur mit beschränkten, vor allem negativen Kompetenzen ausgestattet. So konnte er der Regierung das Geld verweigern. Das nutzten die Parlamentarier, um die Interessen ihrer Klientel zu befriedigen und selbst Einfluss auszuüben. Politische Verantwortung übernehmen mussten sie nicht. Auch die Wähler gewöhnten sich daran, letzten Endes die Regierung für alles verantwortlich zu machen. Das Kaiserreich wurde deshalb zu einer Schönwetterautokratie: Als Frieden, Wohlstand und Wirtschaftswachstum im Ersten Weltkrieg endeten, waren auch die Tage seiner politischen Existenz gezählt.

Die Bundesrepublik hat eine andere Verfassungsstruktur. Doch weil parlamentarische Demokratie eine Dauerbaustelle ist, ist auch in ihr die Versuchung für Parteien und Wähler groß, statt der Übernahme von Verantwortung in Politik und Zivilgesellschaft allein mit anklagendem Finger auf „die da oben“ zu deuten. Wenn eine solche Mentalität die Überhand gewinnt, kann das gegenwärtige System sich leicht als Schönwetterdemokratie entpuppen – und in einer krisenhaften Situation ein vergleichbares Ende wie das Kaiserreich finden. 

Prof. Dr. Christoph Nonn ist Professor für Neueste Geschichte an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf. Zu seinen Büchern gehören u.a. „Bismarck. Ein Preuße und sein Jahrhundert“ (2015) sowie zuletzt „12 Tage und ein halbes Jahrhundert. Eine Geschichte des deutschen Kaiserreichs 1871 bis 1918 “ (2020, beide C.H. Beck).

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