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15.01.21 / Ein Kaisertum ohne starkes Monarchenamt / Über die verfassungsmäßige Stellung des Kaisers im Deutschen Reich von 1871 und seine Abhängigkeit von der Macht Preußens sowie dessen Ministerien, Streitkräften und sonstigen Behörden

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 02-21 vom 15. Januar 2021

Ein Kaisertum ohne starkes Monarchenamt
Über die verfassungsmäßige Stellung des Kaisers im Deutschen Reich von 1871 und seine Abhängigkeit von der Macht Preußens sowie dessen Ministerien, Streitkräften und sonstigen Behörden
Oliver F.R. Haardt

Als das Deutsche Reich 1871 ins Leben trat, umgab den neuen Nationalstaat der Anschein eines Fürstenbundes. Dieser Eindruck entstand ganz wesentlich durch die besondere Stellung, die die Reichsverfassung dem Kaiser gab. Die Verhandlungen zur Vereinigung der deutschen Einzelstaaten hatten auf Drängen Bismarcks darauf verzichtet, den Kaiser zu einem Reichsmonarchen zu machen. Stattdessen war der preußische König in der Proklamationszeremonie von Versailles zu einem primus inter pares des Bundes der regierenden Fürsten erklärt worden. Was genau hieß das aber? Welche Rechte und Pflichten waren mit dieser Stellung verbunden? Und wie unterschieden sie sich von denen eines echten Monarchen? 

In der Exekutive gewährte die Verfassung dem Kaiser äußerst weitgehende Befugnisse. So unterstand ihm die gesamte auswärtige Gewalt. Er vertrat das Reich völkerrechtlich, konnte Verträge mit anderen Staaten eingehen, Gesandte beglaubigen und empfangen und im Namen des Reiches Frieden schließen und Krieg erklären. Um Letzteres zu tun, brauchte er allerdings die Zustimmung des Bundesrates, außer im Falle eines direkten Angriffs auf das Bundesgebiet oder dessen Küsten. Auch die Personalgewalt lag ganz in seinen Händen. Er ernannte, vereidigte und entließ alle Reichsbeamten, inklusive des Kanzlers. Laut Verfassung war er somit Kopf der nationalen Verwaltung und Chef des einzigen Amtsträgers, den sie zur Übernahme von Regierungsaufgaben vorsah. Das gab dem Kaiser die Möglichkeit, durch die Besetzung der jeweiligen Schlüsselpositionen den Kurs der Exekutive in allen Bereichen maßgeblich mitzubestimmen. Im Rahmen der sogenannten Reichsaufsicht überwachte er außerdem die Ausführung der Bundesgesetze durch die Länder, informierte den Bundesrat gegebenenfalls über Unregelmäßigkeiten und setzte von diesem beschlossene Gegenmaßnahmen um. Verletzte ein Einzelstaat seine verfassungsmäßigen Pflichten schwer und verhängte der Bundesrat deshalb eine Reichsexekution, durfte der Kaiser Strafmaßnahmen bis hin zu einer militärischen Intervention durchführen. In der Legislative waren seine Rechte dagegen sehr viel begrenzter. Alles, was ihm hier zustand, war, den Bundesrat und den Reichstag zu berufen, zu eröffnen, zu vertagen und zu schließen sowie Gesetze auszufertigen und zu verkünden. Die Verfassung beschränkte seine Rolle in der Gesetzgebung also auf rein formale Funktionen.

Vollzugsgewalt beim Bundesrat 

Dieses Set an exekutiven und legislativen Rechten machte den Kaiser zwar zu einer wichtigen Figur innerhalb des Regierungssystems, aber nicht zu einem Monarchen des Reiches. Während es in der politischen und rechtlichen Diskussion der Zeit durchaus umstritten war, was genau eine konstitutionelle Monarchie ausmachte, „so gilt doch von allen Monarchien“, wie der deutsch-österreichische Rechtswissenschaftler Georg Jellinek in seiner Allgemeinen Staatslehre zur Jahrhundertwende resümierte, „dass alle staatlichen Funktionen ihren Ausgangspunkt und daher auch ihren Einigungspunkt im Monarchen haben“. Für den Kaiser galt das weder in der Exekutive noch in der Legislative. Trotz seiner Dominanz in allen auswärtigen und Personalangelegenheiten ruhte die Vollzugsgewalt grundsätzlich beim Bundesrat. Das machte die Verfassung zum Beispiel dadurch deutlich, dass sie das klassische Regierungsvorrecht, das Parlament aufzulösen, der Länderkammer übertrug. Dem Kaiser gab sie lediglich ein Zustimmungsrecht. An der Gesetzgebung beteiligte sie ihn überhaupt nicht gestalterisch. Reichsgesetze kamen allein durch die übereinstimmenden Mehrheitsbeschlüsse von Bundesrat und Reichstag zustande. Für den Kaiser war keine gleichwertige Rolle im legislativen Prozess vorgesehen. 

Wie limitiert die Stellung war, die die Verfassung ihm gab, wird deutlich, wenn wir bedenken, welche Rechte ihm im Vergleich zu einem monarchischen Souverän fehlten. Als Referenzpunkte bieten sich die beiden Institutionen an, die aufs Engste mit seinem Amt beziehungsweise dessen Entstehungsgeschichte verflochten waren: das Königtum in Preußen, mit dem der Kaiser in Personalunion verbunden war, und das Kaisertum der Frankfurter Paulskirche, das gewissermaßen als sein historischer Vorgänger allen Parteien bei den Verhandlungen über seine verfassungsrechtliche Position vor Augen stand. Die preußische Verfassung von 1850 erklärte unmissverständlich, dass „dem Könige allein […] die vollziehende Gewalt“ zustehe. Der Verfassungsentwurf der Frankfurter Nationalversammlung ging sogar noch einen Schritt weiter. Er bestimmte, dass „ueberhaupt […] der Kaiser die Regierungsgewalt in allen Angelegenheiten des Reiches nach Maaßgabe der Reichsverfassung“ habe und „ihm als Träger dieser Gewalt […] diejenigen Rechte und Befugnisse [zustünden], welche in der Reichsverfassung der Reichsgewalt beigelegt und dem Reichstage nicht zugewiesen“ seien. Eine solche Generalermächtigung, die den Kaiser zum Kristallisationspunkt der Exekutive erklärt hätte, kannte die neue Reichsverfassung nicht. Außerdem stand sowohl dem preußischen König als auch dem Kaiser der Paulskirche das allgemeine Verordnungsrecht zu, also die Befugnis, in allen Regierungsfeldern Dekrete zur Ausführung der Gesetze zu erlassen. Genau wie das Recht, den Reichstag zu eröffnen, legte die Verfassung von 1871 dieses klassische Vorrecht eines konstitutionellen Monarchen nicht dem Kaiser, sondern dem Bundesrat bei.

In der Legislative war der Unterschied noch deutlicher. Die preußische Verfassung bestimmte, dass „die gesetzgebende Gewalt […] gemeinschaftlich durch den König und durch zwei Kammern ausgeübt“ werden und die „Uebereinstimmung“ aller drei Organe „zu jedem Gesetze erforderlich“ sein solle. Dementsprechend konnte der König jeden ihm missliebigen Gesetzesbeschluss blockieren. Er hatte also ein absolutes Veto. Die Frankfurter Reichsverfassung machte den Kaiser im Gesetzgebungsverfahren zwar nicht ganz so stark, gab ihm aber zumindest das Recht, legislative Beschlüsse zu verzögern und so eine abermalige Verhandlung zu erwirken. Erst wenn der Reichstag ein Gesetz „in drei unmittelbar folgenden ordentlichen Sitzungsperioden unverändert gefaßt“ hatte, konnte der Kaiser ein solch suspensives Veto nicht mehr einlegen. Unter der Verfassung von 1871 stand dem Kaiser weder ein Veto der einen noch der anderen Sorte zu. Es gab keine Vorschrift, die es ihm ausdrücklich erlaubt hätte, einmal vom Bundesrat und Reichstag beschlossene Gesetze zu obstruieren. Darüber hinaus hatte er anders als sein Frankfurter Vorläufer oder sein preußischer Alias auch nicht das Recht, Gesetzesentwürfe in den legislativen Prozess einzubringen. 

Kein Würdenträger aus 

eigenem Recht

Der wichtigste „Gegensatz […] gegen das Monarchenrecht“ bestand aber gar „nicht in dem verschiedenen Maße der Machtbefugnisse“, wie Paul Laband in der fünften Auflage seines Staatsrechts nach Jahren der Beobachtung unterstrich, sondern „in der Verschiedenheit des Rechtsgrundes“, auf dem das Kaiseramt beruhte. Der Kaiser war kein Würdenträger eigenen Rechts. Anders als der Entwurf der Paulskirche definierte die Verfassung von 1871 kein eigenständiges Amt eines „Reichsoberhauptes“, das sie dem König von Preußen übertragen hätte. Vielmehr stand diesem das Präsidium des Bundes unter dem Titel eines „Deutschen Kaisers“ automatisch zu. Eine Kaiserwürde, die an ein unabhängiges nationales Amt gebunden war, gab es somit gar nicht. Der preußische König trug in seinen föderalen Funktionen kraft seines eigenen und nicht kraft eines gesonderten Amtes die Ehrenbezeichnung eines Kaisers. Es handelte sich dabei folglich nur um eine „Quasi-Amtswürde“, wie der Bonner Staatsrechtler und überzeugte Monarchist Philipp Zorn in Holtzendorffs Rechtslexikon kritisch anmerkte. Anders ausgedrückt: Als Teil des bündischen Scheins, in den Bismarck den neuen Nationalstaat hüllte, war das Amt des Kaisers eine bloße Verkleidung. Unter dem nationalen Gewand des Staatsoberhauptes steckte der König von Preußen. Um ein Monarch zu sein, fehlte dem Kaiser also nicht nur die eigene Krone, sondern auch die autonome Substanz.

Indem die Verfassung den Kaiser derart eng an den preußischen Thron band, machte sie es allen anderen regierenden Fürsten des Reiches unmöglich, jemals dessen Amt zu beanspruchen. Dadurch sicherte das Kaisertum die Hegemonie, die die preußische Monarchie über Deutschland auf dem Schlachtfeld gewonnen hatte, staatsrechtlich ab. Die Untrennbarkeit des Kaiseramtes und der preußischen Krone ergab sich dabei nicht nur aus dem, was die Verfassung festlegte, sondern auch aus dem, was sie nicht regelte. Im Gegensatz zur Frankfurter Reichsverfassung verlor sie kein einziges Wort über die Modalitäten der Erbfolge und die Regeln für eine mögliche Abdankung oder Regentschaft. Es galten daher die jeweiligen Bestimmungen, die das preußische Staatsrecht und die Hausgesetze der Hohenzollern für die Krone von Preußen festlegten. Nicht als Deutscher, sondern als Preuße bestieg der Kaiser den Thron, übergab er seine Amtsgeschäfte im Krankheitsfall einem Stellvertreter und reichte er seine Würde im Moment seines Todes an einen Nachfolger weiter. Sein Amt war demzufolge nicht viel mehr als ein „Akzessorium der preußischen Krone“, wie Laband auf den Punkt brachte. 

Monarch ohne eigene Institutionen

Dieser Zubehörcharakter äußerte sich besonders deutlich darin, dass dem Kaiser bis auf seinen Titel keinerlei monarchische Ehren aus eigenem Recht zustanden. Im Gegensatz zu ihrem Pendant von 1849 richtete die Reichsverfassung weder eine kaiserliche Residenz noch eine Zivilliste ein. Auch einen eigenen kaiserlichen Hof gab es nicht. Für alle seine Aufgaben musste der Kaiser die entsprechenden preußischen Einrichtungen nutzen. Die im Zusammenhang mit seiner Amtsführung anfallenden Ausgaben übernahm die preußische Zivilliste, die deshalb im Laufe der Jahre mehrmals erhöht wurde. Noch nicht einmal eigene Orden oder Adelstitel konnte der Kaiser verleihen. Da die Stiftung und Zuerkennung solcher Auszeichnungen monarchischen Landesherren vorbehalten waren, konnte er sie nur als König von Preußen vornehmen. Um ausdrücklich auf die ganze Nation bezogene Ehrungen durchführen zu können, schuf Wilhelm I. deshalb wenige Monate nach der Reichsgründung in Erinnerung an die Einigungskriege per Allerhöchster Ordre eine neue Version der III. und IV. Klasse des Königlichen Kronen-Ordens. Dieses kreuzförmige Abzeichen verlieh der König von Preußen an einem weißen, sechs Mal schwarz gestreiften Ehrenband, das durch seine roten Seitenränder an die Reichsflagge erinnerte. Ein besseres Sinnbild für die doppelte Identität des Kaisers hätte es kaum geben können. Genau wie der Orden war das Kaiseramt mit den deutschen Farben dekoriert, aber preußisch im Kern. Das Staatsoberhaupt des Reiches war kein Kaiser, sondern ein Kaiser-König.

Dr. Oliver F. R. Haardt ist Lumley Research Fellow in Geschichte am Magdalene College der Universität Cambridge. Zuvor studierte er ebenfalls in Cambridge am Trinity College Geschichte und promovierte 2017 unter Christopher Clark.   

www.hist.cam.ac.uk

Der Text ist ein Auszug aus: 

Oliver F. R. Haardt

Bismarcks ewiger Bund. Eine neue Geschichte des Deutschen Kaiserreichs 944 Seiten mit 48 s/w Abbildungen, 16 Graphen und 1 Karte, wbg Theiss, ISBN: 978-3-8062-4179-2, 40 Euro