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15.01.21 / Der verkannte Monarch / Bis heute gilt Wilhelm I. als unpolitischer König, der eher zufällig, wenn nicht gar gegen seinen Willen Kaiser wurde. Dabei hat er sich seit seinen Tagen als Kronprinz aktiv am politischen Geschehen Preußens beteiligt

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 02-21 vom 15. Januar 2021

Der verkannte Monarch
Bis heute gilt Wilhelm I. als unpolitischer König, der eher zufällig, wenn nicht gar gegen seinen Willen Kaiser wurde. Dabei hat er sich seit seinen Tagen als Kronprinz aktiv am politischen Geschehen Preußens beteiligt
René Nehring

Wilhelm I. ist ein historisches Phänomen. Obwohl das Leben des Monarchen – geboren 1797, gestorben 1888 – weitestgehend parallel zu dem ereignisreichen 19. Jahrhundert verläuft und in enger wechselseitiger Beziehung zu den Zeitläuften steht, und obwohl Wilhelm als König von Preußen der erste Kaiser des zweiten Reichs wird, umgibt ihn kein besonderer historischer Nimbus. Tragen andere Herrscher aus seinem Hause Beinamen wie der „Große Kurfürst“ Friedrich Wilhelm von Brandenburg oder wie der „Soldatenkönig“ Friedrich Wilhelm I. oder wie Friedrich II. „der Große“ oder auch nur der „Romantiker auf dem Throne“ wie Wilhelms I. älterer Bruder Friedrich Wilhelm IV., so ist in der historischen Überlieferung selbst bei interessierten Laien kaum eine Vorstellung vom Wirken dieses Monarchen bekannt. Auch das größte politische Ereignis in seinem Leben, die Kaiserkrönung in Versailles am 18. Januar 1871 – und damit der endgültige Aufstieg der Hohenzollern an die Spitze der deutschen Fürsten – wird gemeinhin nicht mit Wilhelm, sondern mit Otto v. Bismarck verbunden. 

Wenn überhaupt, dann haben sich eher negative Wilhelm-Überlieferungen erhalten. Für die politische Linke ist er vor allem der „Kartätschenprinz“, der 1848 der Revolution den Garaus macht; und Konservative wie Liberale nehmen in der für sie maßgeblichen Einigungsfrage den König neben dem zupackenden Bismarck eher als wankelmütig wahr. Beides empfiehlt ihn nicht als Idol für politische Lager. Selbst die Geschichtsschreibung weiß wenig mit Wilhelm anzufangen; wenn er überhaupt auftaucht, dann zumeist als ein historiographischer Mitläufer zwischen Friedrich Wilhelm IV. und Bismarck. Bezeichnend ist das Urteil Jürgen Angelows, dass Wilhelm „mehr Zuschauer als Akteur“ war und dass seine Leistung allenfalls darin bestanden habe, „in entscheidenden Momenten der Geschichte passiv geblieben zu sein und begabteren Köpfen den Vortritt gelassen zu haben“.

Ein Prinz mit konkretem Programm

Dabei zeigen seine Denkschriften und Korrespondenzen, dass Wilhelm alles andere als ein unpolitischer Kopf ist. Schon im Vormärz beteiligt sich der – seit dem Tode seines Vaters Friedrich Wilhelm III. und der Amtsübernahme seines kinderlosen Bruders Friedrich Wilhelm IV. im Juni 1840 zum Thronfolger und Prinz von Preußen ernannte – Wilhelm regelmäßig an den Debatten zum Tagesgeschehen. Konsequent verteidigt er dabei nach innen die Vorrechte der Krone und fordert nach außen einen Machtgewinn Preußens. 

Zu einem Schlüsselerlebnis wird die Märzrevolution 1848. Obwohl Wilhelm wenige Tage vor deren Ausbruch in Berlin von seinen militärischen Aufgaben entbunden wird, um ins Rheinland zu wechseln, und somit keine Befehlsgewalt über irgendwelche preußische Truppen hat, gilt er für die Revolutionäre schnell als Hassfigur, die für die Niederschlagung der Revolution verantwortlich gemacht wird. Bei Nacht und Nebel muss Wilhelm fliehen – und weiß von nun an, auf welch wackeligen Fundamenten die Monarchie ruht. 

Interessanterweise flieht der vermeintlich reaktionäre Prinz von Preußen nicht an den Hof eines Verteidigers der alten Zeiten – etwa nach Petersburg, wo seine Schwester Charlotte als Kaiserin Alexandra Fjodorowna Gemahlin des Zaren Nikolaus ist –, sondern in die liberale Hochburg der damaligen Zeit – nach London. Dort trifft er regelmäßig den Gemahl der Queen Victoria, Prinz Albert von Sachsen-Coburg und Gotha, und bahnt die freundschaftlichen Beziehungen an, die später das Kaiserreich offiziell mit dem Vereinten Königreich unterhält. Schon in England fügt sich Wilhelm in die neuen Verhältnisse und fordert, jegliche Versuche zur Wiederherstellung der alten Ordnung zu unterlassen. 

Liberaler Aufbruch

Zurück in Berlin empfängt der Prinz von Preußen – nicht zuletzt unter dem Einfluss seiner Gemahlin Augusta, die zu Goethes Zeiten am Weimarer Hof aufgewachsen war – eine Abordnung der Frankfurter Paulskirche, während sein Bruder Friedrich Wilhelm die Repräsentanten des ersten gesamtdeutschen Parlaments brüsk zurückweist. In der folgenden Reaktionszeit unter Ministerpräsident Otto Theodor v. Manteuffel steht er auf der Seite der Liberalen und wird trotz seiner Stellung als Thronfolger politisch kaltgestellt.

Als sich 1858 der Gesundheitszustand Friedrich Wilhelms IV. zunehmend verschlechtert und der Bruder letztlich auf seine Regierungsgewalt verzichten muss, wird Wilhelm zum Prinzregenten ernannt und leistet, obwohl formal nur Stellvertreter des Königs, einen Eid auf die Verfassung, was Friedrich Wilhelm stets vermieden hat. Damit erkennt Wilhelm die Verfassung als für das Geschlecht der Hohenzollern verbindlich an. 

Konsequent läutet der Prinz von Preußen die Neue Ära ein mit dem Ziel, die bürgerlichen Freiheiten wieder stärker zu ermöglichen. Diese Ära ist jedoch vorbei, als Wilhelm glaubt, dass die Liberalisierung zulasten der überlieferten Rechte der Krone geht. Zur schicksalhaften Streitfrage wird die Heeresreform, in der der Prinz unter anderem eine Anhebung des Wehretats und der Wehrdienstzeit fordert. Wilhelm sieht die Weigerung des Parlaments, ihm die dafür erforderlichen Mittel zu bewilligen, als Angriff auf seine Rechte als Monarch. Entschieden lehnt er jeden Kompromissvorschlag ab und verschleißt darüber mehrere Minister, die zum Teil langjährige Weggefährten sind. 

König von Preußen

Mit dem Tode Friedrich Wilhelms IV. 1861 wird Wilhelm König. Zum Zeichen der Bekräftigung der tief in einer Krise steckenden Monarchie krönt er sich im Oktober des Jahres in Königsberg als zweiter Hohenzollern-Monarch – nach Friedrich I. 1701 – selbst zum König von Preußen. Als sich die innenpolitischen Verhältnisse 1862 weiter festfahren, beruft er im September den Landtagsabgeordneten Otto v. Bismarck zum Ministerpräsidenten. 

Bismarck gilt heute als derjenige, der von nun an in der preußischen Politik die Führung übernimmt. In einer Rede vor dem Abgeordnetenhaus erklärt er am 30. September 1862 unter anderem: „… nicht durch Reden oder Majoritätsbeschlüsse werden die großen Fragen der Zeit entschieden – das ist der große Fehler von 1848 und 1849 gewesen – sondern durch Eisen und Blut“. Im sich verschärfenden Verfassungskonflikt vertritt er im Januar 1863 die „Lückentheorie“, derzufolge die Verfassung keine Vorkehrung dafür treffe, dass die Parlamentarier unterschiedliche Auffassungen in der Budgetfrage hätten als der Monarch. 

Schaut man sich jedoch die Äußerungen Wilhelms in jener Zeit an, stellt sich die Frage, wer hier wem folgt. So erklärt der König zur „Lückentheorie“ in einem Brief an den liberalen Oberstleutnant v. Vincke zu Olbendorf-Schlesien bereits am 2. Januar 1863, also gut vier Wochen vor Bismarck: „Wo steht es in der Verfassung, daß nur die Regierung Konzessionen machen soll und die Abgeordneten niemals??? (…) Das Abgeordnetenhaus hat von seinem Rechte Gebrauch gemacht und das Budget reduziert. Das Herrenhaus hat von seinem Rechte Gebrauch gemacht und das reduzierte Budget en bloc verworfen. Was schreibt die Verfassung in einem solchen Falle vor? Nichts!“

Und bereits im Mai 1849 schrieb Wilhelm an seinen alten Erzieher Oldwig v. Natzmer: „Wer Deutschland regieren will, muß es sich erobern; à la Gagern geht es nun einmal nicht. Ob die Zeit zu dieser Einheit schon gekommen ist, weiß Gott allein! Aber daß Preußen bestimmt ist, an die Spitze Deutschlands zu kommen, liegt in unserer ganzen Geschichte, – aber das Wann und Wie darauf kommt es an.“ Klingt dies nicht ganz so wie Bismarcks Rede von „Eisen und Blut“? Auf jeden Fall verdeutlichen diese – und unzählige weitere – Zitate, dass Wilhelm lange bevor Bismarck die Verantwortung für die Geschicke Preußens übertragen bekommt, deutlich Ziele formuliert, die in den folgenden Jahren umgesetzt werden. 

Dies gilt vor allem für Wilhelms Auffassung von der Rolle Preußens in Deutschland. Die Forderung, dass die Hohenzollern an die Spitze der deutschen Fürsten treten müssten, zieht sich durch unzählige Briefe, Denkschriften und Reden des Monarchen seit seiner Kronprinzenzeit. Insofern kann davon, dass dieser König gegen seinen Willen Kaiser wurde, nicht die Rede sein. Zwar kritisiert Wilhelm noch am Abend vor seiner Ausrufung 1871, dass ihm das Kaiseramt kaum mehr erscheine als das eines „Charaktermajors“, doch meint dies eher die damit verbundenen geringen Kompetenzen und weniger das Amt an sich. 

Das Verhältnis zu Bismarck

An der herausragenden Bedeutung Otto v. Bismarcks ändern derlei Erkenntnisse nichts. Der Ministerpräsident und spätere Reichskanzler bleibt der große Gestalter jener innen- und außenpolitischen Revolution, die die Gründung des Deutschen Reiches letztlich ist. Und doch muss angesichts der Aussagen Wilhelms und seiner – am Beispiel des Verfassungskonflikts gezeigten – Bereitschaft, in grundlegenden, seine Rechte als Monarch betreffenden Fragen nicht nachzugeben, bezweifelt werden, dass er all die politischen Umwälzungen der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts nur klagend ertragen hat. 

Vielmehr spricht vieles dafür, dass Bismarck im Wesentlichen die grundlegenden politischen Vorstellungen seines Königs umsetzt und nicht zuletzt deshalb so viele Gestaltungsfreiräume erhält, weil der Monarch in ihm endlich jenen „Macher“ gefunden hat, der in der Tagespolitik das umsetzt, was er selbst seit Jahrzehnten an Zielen verfolgt.