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22.01.21 / Flucht 1945 / Von Ostpreußen nach Ostpreußen / Der Angerburger Stadtkassen-Angestellte Otto Broszio strandete in Damgarten – Russen zwangen die Flüchtlinge zur Rückkehr

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 03-21 vom 22. Januar 2021

Flucht 1945
Von Ostpreußen nach Ostpreußen
Der Angerburger Stadtkassen-Angestellte Otto Broszio strandete in Damgarten – Russen zwangen die Flüchtlinge zur Rückkehr
Otto Broszio

Am 24. Januar 1945 um drei Uhr früh verließ ich mit dem Kassenboten, Herrn Kafka, mit dem letzten Zug die Stadt Angerburg. Als stellvertretender Leiter der Stadtkasse hatte ich den Auftrag, die bei der Kasse vorhandenen Vermögenswerte im Wert von ungefähr einer Million Reichsmark zur Ausweichstelle nach Köslin/Pommern in Sicherheit zu bringen. Da die Polizeibeamten auch schon fort waren, warteten nur noch Kafka und ich auf den Abmarschbefehl. Auf nochmalige Anfragen, wann auch wir endlich abreisen könnten, erschien am späten Nachmittag des 23. Januar der stellvertretende Bürgermeister Fritz Behrend und sagte, es führe noch ein Zug, wir müssten uns aber beeilen. Wir setzten uns auf unsere Räder und fuhren zum Bahnhof. Als wir dort ankamen, war der Zug schon weg. Er war bereits abgefahren. Was nun?

Als es dunkel wurde, sahen wir, dass noch einige Wagen zusammengeschoben wurden. Uns wurde gesagt, dass nur Eisenbahner und Soldaten mitfahren dürften. Wir sind dann doch unbemerkt eingestiegen und warteten auf die Abfahrt. Am 25. Januar kamen wir in Königsberg an, wohin der Zug umgeleitet worden war. Da die Stadt dauernd mit Bomben beworfen wurde, bestand keine Verbindung nach außen und wir beschlossen, per Fußmarsch weiterzukommen. Wir wollten über Pillau und die Frische Nehrung nach Danzig gelangen. 

Am 29. Januar begann unser Marsch. In Metgethen, das voll von Trecks war, wurden wir von Tieffliegern angegriffen, konnten uns aber unter einen Treckwagen werfen. Am Morgen des 30. Januar sind wir im Schneesturm weitergegangen und erreichten Fischhausen. Wir fanden ein Haus, in dem ein Schornsteinfeger gewohnt hatte, und blieben zur Nacht. Hier konnten wir uns erst einmal ausruhen. Es waren noch einige Flüchtlinge da. Ein altes Ehepaar hatte Betten auf dem Boden ausgelegt, wo ich mich hinlegen durfte. Als die Frau merkte, dass ich mich nicht bedecken konnte, nahm sie meinen Arm und zog mich zu sich heran: „Nun wärmen Sie sich man gut auf und haben keine Angst, ich werde Ihnen nichts tun.“ Ich sagte darauf: „Ich habe keine Angst, und wenn Sie auch keine Angst haben, ist ja alles gut.“ Am nächsten Morgen haben wir darüber lachen müssen.

Auf dem Weg nach Pillau

Am 31. Januar zogen wir weiter in Richtung Pillau. Nachdem es hell geworden war, sind wir zur Fähre gegangen. Als wir ankamen, sahen wir, dass dort Lastwagen der Wehrmacht verladen wurden. Ich meldete mich bei dem Offizier, der die Aufsicht hatte, und sagte, dass ich einen Auftrag der Stadt Angerburg hätte. Der Offizier antwortete, dass es ihm leid täte, meine Bitte nicht erfüllen zu können, da er grundsätzlich Zivilpersonen nicht passieren lassen dürfe. Da kam mir ein Gedanke: Der Offizier stand auf der linken Seite der Fähre und wir auf der rechten. Wenn nun ein Laster auf die Fähre fuhr, konnte uns der Offizier nicht sehen. Wir mussten versuchen, mit dem Lkw mitzulaufen und uns auf der Fähre unter den Wagen zu werfen. Es war damit aber ein Risiko verbunden, denn falls der Fahrer zu weit nach rechts halten würde, hätte es passieren können, dass wir gegen die Wand gedrückt würden.

Aber wie gesagt, so getan. Zuerst liefen Kafka und ich auf die Fähre und dann unsere weiteren Begleiter Skerra und Salz. Wir krochen unter die Lkw und warteten auf die Abfahrt. Es hatte geklappt. Kurz bevor wir Neutief erreicht hatten, krochen wir wieder vor und stellten uns neben den Wagen. Als sie anfuhren, sind wir wieder mitgelaufen und erreichten ungesehen die Frische Nehrung.

Am 2. Februar sind wir weitermarschiert und waren mittags in Kahlberg, wo wir in der Schule Unterschlupf fanden. Der Weg dahin war sehr schwer, aber wir konnten schlafen und uns ausruhen. Es hieß aber weiterzuziehen, und so machten wir uns am 3. Februar auf den Weg nach Pasewalk. Wir mussten unterwegs mehrmals halten, um neue Kräfte zu sammeln. Wir kamen bei einem Bauern unter, dessen Frau uns in die Küche nahm, wo wir Strümpfe und Schuhe trocknen konnten. Auch warmen Kaffee und ein Stück Brot bot uns die Frau an, was wir dankbar annahmen. 

Am nächsten Morgen erreichten wir Mikelswalde, wo wir einen kleinen Frachtdampfer sahen. Als wir hörten, dass er nach Danzig fuhr, baten wir den Kapitän, uns mitzunehmen. Ich brachte wieder mein Sprüchlein vor, und der Kapitän war bereit und ließ uns einsteigen. Die Fahrt ließ uns für einige Zeit den Krieg vergessen. Um 16 Uhr landeten wir endlich in Danzig. Wir bedankten uns beim Kapitän und zogen in Danzig ein.

Bevor ich von Angerburg fortmusste, hatte mir die Nachbarin, Frau Störmer, die Anschrift ihres Sohnes in Danzig gegeben. Das fiel mir jetzt ein, und ich sagte zu Skerra: „Hermann, die Nacht bleiben wir noch hier, aber morgen früh gehen wir beide auf Quartiersuche.“ Am Morgen des 6. Februar fanden wir die Wohnung. Wir wurden von Herrn Störmer und dessen Frau eingeladen, zum Mittagessen zu bleiben. Nach dem Essen sagte Herr Störmer: „Da Sie zusammen vier Mann sind, kann ich Sie leider bei mir nicht aufnehmen. Ich habe aber eine andere Lösung. In der Johgasse 68 hat mein Schwager Höwner eine Wohnung, die er bereits verlassen hat und die Sie benutzen könnten. Die Schlüssel zu der Wohnung habe ich.“ Noch am selben Tag zogen wir in unser Quartier ein. 

Da viele Angerburger über das Auffanglager mussten, hatte sich bald herumgesprochen, wo wir uns aufhielten. So war es kein Wunder, als am 8. Februar Frau Gwiasda und Frau Koch bei uns eintrafen. Bei einem Spaziergang traf ich am 10. Februar auch unseren stellvertretenden Bürgermeister Behrend. Ich erzählte dieses Zusammentreffen meinen Leidensgenossen, und wir waren alle erstaunt, als Behrend am nächsten Tag bei uns auftauchte. Er kam auch gleich zur Sache: „Na, Herr Broszio, ich nehme an, dass Sie die Vermögensunterlagen der Stadt gut bis hier gebracht haben. Nur haben wir vor der Abreise vergessen, ein Verzeichnis anzulegen, was bei der überstürzten Abreise zu verstehen ist. Es wäre aber gut, wenn ich eine Aufstellung bei mir hätte, die Sie unterschreiben müssten.“ Darauf erwiderte ich: „Ist gut, Herr Bürgermeister, ich will gern die Aufstellung machen und bringe sie Ihnen im Laufe des Tages nach Langfuhr. Am besten, ich nehme die Unterlagen mit, und Fräulein Scheiba, meine Sekretärin, macht auf der Schreibmaschine die Aufstellung, und morgen bringe ich Ihnen die Unterlagen zurück.“ 

Skerra und alle anderen waren Zeugen der Unterredung. Nach vielem Überlegen händigte ich die Tasche mit den Unterlagen aus. Ich wartete den nächsten und den übernachten Tag auf Behrend mit den Unterlagen. Als er nicht kam, meinte Skerra: „Du, Otto, da stimmt was nicht. Komm, wir fahren sofort nach Langfuhr.“ Als wir in seinem Quartier ankamen, wurden wir von Fräulein Scheiba empfangen. Auf meine Frage, ob ich die Unterlagen haben könnte, sagte sie: „Eine Aufstellung habe ich nicht gemacht. Herr Behrend ist sofort mit den Unterlagen zum Senat der Stadt Danzig gefahren und hat sich aufgrund der Unterlagen eine Ausreisegenehmigung geben lassen.“ Ohne Genehmigung durfte keine männliche Person Danzig verlassen. Da er verschwunden war, musste ich, um aus Danzig herauszukommen, die Meldestelle aufsuchen und um eine Ausreisegenehmigung bitten. Zum Glück hatte ich eine Bescheinigung des Bürgermeisters vom 23. Februar, die ich vorlegte. Nach langem Hin und Her wurde mir die Genehmigung zur Ausreise erteilt. Auch Skerra und Kafka, beide kriegsbeschädigt, bekamen die Genehmigung. Salz musste sich in der Kaserne beim Volkssturm melden. 

Es war der 16. Februar, als wir Danzig verließen. Die Fahrt ging über Stolp nach Stolpmünde, wo wir abends eintrafen und ins Dorf Zietzen weitergeleitet wurden. Wir fanden Unterkunft bei Bauer Pollex und blieben bis zum 19. Februar. Wir wurden sehr gut aufgenommen, konnten in Federbetten schlafen und auch die Verpflegung war erstklassig. Leider konnten wir hier nicht länger bleiben, denn ich wollte ja Damgarten erreichen, wo ich meine Familie vermutete. 

Am 21. Februar sind wir von Stralsund abgefahren Richtung Damgarten.  Die Adresse hatte ich meiner Frau Weihnachten 1944 bei ihrem Besuch in Angerburg gegeben. Leider traf ich keinen an, es gab auch kein Lebenszeichen. Es hieß also für mich abzuwarten. Damit die Zeit nicht zu lang wurde, habe ich mich nützlich gemacht, habe Holz gesägt, gehackt und eine runde Pyramide gebaut. Da ich von meinen Angehörigen nichts hörte, und auf meine Briefe und die Anfrage bei der Zentral-Anschriften-Vermittlungsstelle Berlin keine Antwort bekam, musste ich annehmen, dass meine Frau mit den Kindern noch in Ostpreußen war. Als am 1. April bekannt gegeben wurde, dass die Ostpreußen, die noch in Damgarten waren, mit einem Zug die Stadt Richtung Westen verlassen könnten, bin ich geblieben, in der Hoffnung, doch noch meine Familie zu finden. Nach dem 2. April zogen täglich Kolonnen von Häftlingen durch die Stadt. 

Als am 30. April SS-Männer durch die Stadt zogen und auf weiße Fahnen Jagd machten – viele Bürger hatten Laken aus dem Fenster gehängt –  wusste ich, dass der Russe nicht mehr fern war. Am 2. Mai rückten die ersten Panzer ein, ihnen folgten bespannte Fahrzeuge. Die Russen drangen in alle Häuser ein und durchsuchten sie. Was sie gebrauchen konnten, nahmen sie mit. Es war noch keine Woche vergangen, da befahl der russische Kommandant, dass alle Flüchtlinge aus Ost- und Westpreußen die Stadt innerhalb von 24 Stunden zu verlassen hätten und in ihre Heimatorte zurückkehren müssten. In Ostpreußen sei wieder Ruhe und Ordnung eingekehrt. Es wurden Passierscheine ausgestellt, die aber, wie sich später herausstellte, keinen Wert hatten. Ich habe mir einen kleinen Handwagen besorgt, auf den ich das wenige Gepäck von Frau Koch und ihrer Tochter sowie meine Habseligkeiten verpackte.

Mit dem Treck zurück nach Hause

Am 7. Mai verließen wir Damgarten und stießen vor der Stadt auf einen langen Handwagentreck, dem wir uns anschlossen. Er bewegte sich auf Stralsund zu. Unterwegs wurden wir öfter angehalten und nach Uhren und Ringen untersucht. In Stralsund wurden wir in einer Realschule untergebracht und durften nicht weiterziehen; wir bekamen als Verpflegung alle vier Tage ein Brot, mussten uns aber schon acht bis zehn Stunden vor der Ausgabe vor dem Bäckerladen aufstellen. Sonst lebten wir von Kartoffeln. Am 1. Juni ging es weiter bis Greifswald, das wir und nach einer Kontrolle durch die Russen erreichten. Am 10. Juni erreichten wir Insterburg. Wir mussten mehrmals umsteigen auf Züge, die nach Osten fuhren. In Stettin und Stargard mussten wir die Gleise vom Schmutz reinigen, wir bekamen von den Russen Strauchbesen in die Hand gedrückt und wurden bewacht. 

In Korschen bestiegen wir einen offenen Wagen, der große Kisten mit Maschinen geladen hatte. Wir versteckten uns zwischen den Kisten und erreichten am 

10. Juni unsere Endstation Insterburg. Wir hielten uns hier nicht länger auf und zogen mit dem Handwagen in Richtung Angerburg. Da es spät geworden war, suchten wir uns ein Quartier in der Nähe von Trempen, wo wir übernachteten. Dann machten wir noch einmal Rast in Sobiechen. 

Am 11. Juni gegen Abend erreichten wir Angerburg. Von Weitem sah es so aus, als ob die Häuser noch alle unversehrt geblieben seien. Als wir aber in Angerburg einrückten, sahen wir die Zerstörung, alle Häuser waren ausgebrannt. Es gab nur noch Ruinen, hier und da stand noch ein Haus, das unversehrt war. Wir zogen über die Bahnhofsstraße zur Bismarckstraße, um zu sehen, ob meine Wohnung noch heil sei. Das Haus stand, aber meine Wohnung war von einer polnischen Familie bewohnt. 

Wir gingen dann zur Königsbergerstraße und trafen unterwegs Herrn Banz. Auf unsere Frage, wo wir unterkommen könnten, sagte er, wir müssten uns bei Bürgermeister Wiese, der in der Freiheitsstraße, hinter dem Krankenhaus wohnte, anmelden, der uns dann eine Unterkunft zuweisen würde. Wir meldeten uns sofort bei Wiese und bekamen eine Unterkunft im Haus Hundertmark zugeteilt. Herr Banz sagte mir auch, dass wir uns bei der russischen oder polnischen Kommandantur melden müssten, und empfahl uns, zur russischen Kommandantur zu gehen. Ich sollte aber bei der Wahrheit bleiben und auch angeben, falls ich in der Partei war. Die Russen hätten Listen über die Parteimitglieder und wüssten Bescheid. Im Haus Hundertmark bezogen wir eine Stube im ersten Stock und machten es uns, soweit es ging, bequem.

Da ich am 12. Juni Geburtstag hatte, meldete ich mich erst am 13. Juni bei der russischen Kommandantur, die mir auch Herr Podranski, den ich am 12. Juni traf, vorschlug. Er meinte, er würde dafür sorgen, dass ich ihm bei der Bedienung der Öfen in der Bismarckstraße helfen könnte. Es kam aber alles anders. (Fortsetzung folgt)