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29.01.21 / Nation ohne Selbst-Bewusstsein / Die gequälten Nicht-Feierlichkeiten zum 150. Jahrestag der Reichsgründung offenbarten einmal mehr das Unwissen der heutigen Deutschen um ihre Geschichte – und ihre Unsicherheit gegenüber dem eigenen Land

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 04-21 vom 29. Januar 2021

Nation ohne Selbst-Bewusstsein
Die gequälten Nicht-Feierlichkeiten zum 150. Jahrestag der Reichsgründung offenbarten einmal mehr das Unwissen der heutigen Deutschen um ihre Geschichte – und ihre Unsicherheit gegenüber dem eigenen Land
Reinhard Mohr

Gewiss, wir leben in Corona-Zeiten, Tag für Tag, Woche für Woche, Monat für Monat. Ein Ende ist nicht absehbar. Die gesamte politische Debatte ist von dieser Pandemie geprägt, und fast alle anderen Themen stehen hintan, ja, sie scheinen wie narkotisiert, wie unter Betäubung. So ging auch im vergangenen Jahr der dreißigste Jahrestag der deutschen Einheit fast völlig unter, von ein paar pflichtmäßigen Reden abgesehen. Das gilt erst recht und noch viel mehr für den 150. Jahrestag der Gründung des Kaiserreichs in Versailles am 18. Januar 1871, der zugleich der Tag der Ernennung Berlins zur deutschen Hauptstadt war.

Es gab keine große Fernsehdokumentation, keinen „Spiegel“-Titel (dafür hätte früher ganz sicher Rudolf Augstein im Alleingang gesorgt), keine öffentliche Gedenkveranstaltung, schon gar nicht im rot-rot-grün regierten Berlin, das inzwischen nur noch eine Ansammlung von „Kiezen“ ist.

Ein verdrängter Jahrestag 

Geschichtsinteressierte mussten in den meisten Zeitungen mühsam nach Artikeln suchen, und der Deutschlandfunk brachte ein fünfminütiges „Kalenderblatt“. Vor einem kleinen Gesprächskreis mit Historikern in Schloss Bellevue äußerte Bundespräsident Steinmeier wenig überraschend: „Nach einer nationalen Feier der Reichsgründung verlangt, so mein Eindruck, heute niemand. Der 18. Januar ist kein Datum, das im kollektiven Gedächtnis der Deutschen wirklich präsent ist.“ So sieht es aus. Dabei weiß Steinmeier genau, dass es nicht um eine rauschende Feier gehen konnte, schon gar nicht in diesen Zeiten, sondern um die Erinnerung an eine bis heute folgenreiche Zäsur in der deutschen Geschichte.

Der Journalist Ulli Kulke hatte sich vor dem 18. Januar 2021 die Mühe gemacht, einmal bei den großen Institutionen der historischen Erinnerung nach etwaigen Plänen und Projekten bezüglich des Jahrestags zu fragen. Ergebnis: praktisch nichts. Im Deutschen Historischen Museum in unmittelbarer Nähe des weitgehend wiederaufgebauten Hohenzollernschlosses sah man keinen Grund, durch eine gesonderte Schau oder öffentliche Veranstaltungen den 150. Geburtstag der Gründung des deutschen Nationalstaates zu begehen. Im Haus der Kulturbeauftragten der Bundesregierung, Monika Grütters (CDU), gab man sich ähnlich zurückhaltend: „Man habe vom 29. auf den 30. Oktober 2020 eine Online-Tagung der AG Orte der Demokratiegeschichte unterstützt, heißt es dort, außerdem fördere man „eine Sonderausstellung in der Otto-von-Bismarck-Stiftung in Friedrichsruh in der Nähe von Hamburg. Das war es dann. Nichts, was auch der aufmerksame Zeitungsleser überregional irgendwie registriert hätte.“

Im Haus der Geschichte in Bonn hatte man immerhin eine zunächst plausibel klingende Antwort parat: Man fühle sich nicht zuständig, kümmere sich nur um die Zeitgeschichte, nach 1945. „Dass dieser Jahrestag“, so Kulke, der früher für die „taz“ und die „Welt“ arbeitete, „allerdings in das Selbstverständnis der Bundesrepublik Deutschland hineinragt und damit auch in den eigenen zeitgeschichtlichen Auftrag – auf die Idee ist man nicht gekommen.“ 

Unter Brandt war es anders

Ironie der Geschichte: Ausgerechnet der sozialdemokratische Bundeskanzler Willy Brandt sprach zum hundertsten Jahrestag der Reichsgründung im Jahre 1971 von Bismarck als einem „der großen Staatsmänner unseres Volkes“. Trotz der 1878 verabschiedeten „Sozialistengesetze“ fand Brandt neben dem „Niederdrückenden“ dieser Epoche in den Überlieferungen des 19. Jahrhunderts auch „Inspirierendes“, weil „der Freiheitsfaden in der deutschen Geschichte immer wieder aufgegriffen werden“ konnte. Unzweifelhaft dachte er dabei etwa an das Hambacher Fest von 1832, den deutschen „Vormärz“ und die Revolution von 1848.

Doch auch diese Ereignisse sind im Bewusstsein der meisten Deutschen kaum mehr oder gar nicht präsent. Das alles ist Ausdruck einer wachsenden Geschichtslosigkeit, die nicht allein mit mangelnder Bildung zu erklären ist, sondern auch mit der – angesichts von politischer Korrektheit und „Cancel Culture“ – grassierenden Angst, in ein „falsches“ politisches Fahrwasser zu geraten. Bismarck, Kaiser Wilhelm und Deutsches Reich – das sind in der Öffentlichkeit von 2021 eigentlich Unworte, „toxische“ Reizbegriffe, die ausschließlich negativ besetzt sind. 

Kein Wunder, dass die Suche der Deutschen nach sich selbst, nach ihrer Identität, nach dem Woher und Wohin immer noch und immer wieder auf Schlingerkurs ist. Immer noch und immer wieder kommt es zum letztlich ergebnislosen Streit über Begriffe wie Nation, Heimat und Leitkultur – erst recht angesichts der Tatsache, dass inzwischen 26 Prozent der Bevölkerung einen sogenannten „Migrationshintergrund“ haben. Allenfalls dient die Debatte zur politischen Denunziation: Wer von Heimat, gar Nation spricht, landet schnell im rechten Abseits. 

In seinem Buch „Lauter letzte Tage“ stellte der Autor Friedrich Sieburg schon 1961 fest, die Deutschen hätten seit eh und je dabei versagt, zu einer natürlichen Klarheit über sich selbst zu gelangen.

Englands Premierminister Winston Churchill sah sie entweder „an der Gurgel“ ihrer Feinde oder zu ihren Füßen. Angst und Heldenmut, Kleingeistigkeit und Großmachtstreben, philosophische Grübelei und mörderische Effizienz – es gibt viele Aspekte jener deutschen Zerrissenheit, unter der schon Friedrich Schiller, Heinrich Heine und Kurt Tucholsky litten. 

Zwischen den Extremen

Es ist ein Phänomen: Trotz aller Veränderungen nach zwei Weltkriegen, deutscher Teilung, europäischer Vereinigung, Mauerfall und staatlicher Einheit ist das Selbstbewusstsein der Deutschen immer noch von Extremen geprägt: einerseits diffus und unsicher, andererseits radikal und ideologisch, jedenfalls aber merkwürdig ungefestigt.

Die Corona-Krise hat diese Ausprägungen noch deutlicher hervortreten lassen. Eine einigermaßen realistische Selbstwahrnehmung hat es umso schwerer in Zeiten, als die Skandalisierungs- und Empörungskultur des Internets und der sogenannten „sozialen Medien“ wie Twitter und Facebook einseitige, vermeintlich einzig wahre Sichtweisen bis hin zu Verschwörungstheorien zu bestätigen scheinen. Vor lauter Rassismus, Sexismus, Rechtsextremismus und Nationalismus erkennt manch ein Bürger sein eigenes Land nicht wieder, die gute alte Bundesrepublik.

Linksaußen warnt die „Nie wieder-Deutschland“-Fraktion vor dem ewigen Faschismus, rechtsaußen kämpfen „Reichsbürger“ und Neonazis gegen „Lügenpresse“ und „Volksverräter“, während die grüne Moralisten-Vereinigung überzeugt ist, dass „gerade Wir“ als geläuterte Deutsche berufen seien, die Welt zu retten. Motto: Nur ein schlechtes Gewissen ist ein gutes Gewissen. Dazwischen treiben lose versprengte Zeitgenossen, denen entweder alles egal ist, Hauptsache, das WLAN funktioniert, oder solche Individuen, die sich in ihre offenkundig anachronistisch gewordene spätbürgerliche Liberalität zurückziehen wie auf ein altes Sofa. Millionen von Migranten dürfte all das sowieso äußerst fremd erscheinen. Was hat ein syrischer Flüchtling aus Aleppo mit Bismarck zu tun?

Realismus in der Minderheit

Die klassisch-bürgerliche Mitte wirkt dabei merkwürdig verloren, blass, konturlos, ohne Ausstrahlungskraft und Selbstbewusstsein – und das, obwohl sie für das erfolgreiche, weltweit gefeierte „Modell Deutschland“ steht, die Mischung aus freiheitlicher Demokratie und sozialer Marktwirtschaft. Selbst Helmut Kohl erscheint im Rückblick wie ein Leuchtturm des liberalen Konservativismus, an dem man sich zumindest reiben konnte. 

Auch die Spitzenkandidaten zur bevorstehenden Bundestagswahl verkörpern kaum noch glaubwürdig den politischen Kern jenes bundesdeutschen Erfolgsmodells, dessen Fortschreibung sie mit Optimismus in Angriff nehmen könnten. Der linksgrüne, „postnationale“ Zeitgeist zwischen Weltrettungs-Idealismus, Gender-Mainstreaming und Live-Ticker-Katastrophismus sorgt dafür, dass kritisch-pragmatische Vernunft und politischer Realismus immer mehr in eine Minderheitenposition geraten. 

So hat die Integrationsbeauftragte der Bundesregierung, die Merkel-Vertraute Annette Widmann-Mauz, gerade verkündet, dass nun auch der politisch korrekte Begriff „Migrationshintergrund“ abgeschafft werden soll, weil er nicht mehr „zeitgemäß“ sei. Die von ihr beauftragte „Fachkommission Integrationsfähigkeit“ geht nach zwei Jahren (!) Arbeit in ihrem Abschlussbericht noch weiter: Die titelgebende Bezeichnung „Integrationsfähigkeit“ sei „verengend“ und solle ebenso wenig weiter benutzt werden wie das Wort von der „Mehrheitsgesellschaft“. Lieber wolle man künftig von „Einwanderungsgesellschaft“ sprechen, in der keine Gruppe diskriminiert und ausgegrenzt werde.

Umformung der Wirklichkeit

Wir verstehen: Über die Verordnung offiziöser Sprachregelungen soll die Wirklichkeit umgeformt, teils gleich ganz zum Verschwinden gebracht werden. Wie aber, um Himmels willen, sollen Menschen aus fernen Ländern und Kulturen jemals in Deutschland ankommen, wenn die „Einwohnenden“ (Originalton gendergerechte Sprache) der „Einwanderungsgesellschaft“ selbst nicht wissen, in welchem Land, mit welcher Geschichte und Kultur, mit welchen Werten, Rechten und Pflichten sie eigentlich leben – wenn sie also kein angemessenes und, ja, verbindlich-mehrheitsfähiges Selbst-Bewusstsein haben? 

Dann bleibt uns nur noch die Übernahme des Sprachgebrauchs der Bundeskanzlerin, dann sind wir eben „Menschen, die schon länger hier leben“. 

Mehr Geschichtslosigkeit geht nicht.

Reinhard Mohr war bis 2004 Redakteur des „Spiegel“ und bis 2010 Autor von „Spiegel Online“. Zu seinen Büchern gehört „Bin ich jetzt reaktionär? Bekenntnisse eines Altlinken“ (Gütersloher Verlagshaus, 2013).