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29.01.21 / Fall Nawalnyj / Steht eine Putindämmerung bevor? / Mehr als 100.000 Menschen protestieren landesweit – Moskau setzt weiter auf Symbole der Stärke

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 04-21 vom 29. Januar 2021

Fall Nawalnyj
Steht eine Putindämmerung bevor?
Mehr als 100.000 Menschen protestieren landesweit – Moskau setzt weiter auf Symbole der Stärke
Manuela Rosenthal-Kappi

Etwas hat sich verändert seit der Festnahme des Kremlkritikers Alexej Nawalnyj: Erstmals während Wladimir Putins langer Herrschaft gab es landesweit Proteste. Von Königsberg im Westen bis Chaba-rowsk in Fernost – in über 100 Städten dder Russischen Föderation gingen vor allem junge Menschen zwischen 18 und 35 Jahren, auf die Straße. Bis zu 160.000 Demonstranten sollen es gewesen sein. Selbst Minustemperaturen von 51 Grad Celsius in Jakutsk hielten sie nicht davon ab, ihren Unmut kundzutun. Die Regierung reagierte mit Massenverhaftungen. 

Schneebälle gegen Schlagstöcke

Bei den Videos der Demonstrationen, die sich in Windeseile im Internet verbreiteten, fällt auf, dass die Polizei in Moskau und St. Petersburg offenbar härter durchgriff als im Osten des Landes. Dort wirkten die Einsatzkräfte eher zurückhaltend. Angriffe sowie freundschaftliche Szenen gab es auf beiden Seiten. Die Demonstranten agieren zunehmend furchtlos. Mehrere von ihnen griffen Polizisten an, durchbrachen Absperrungen, beschädigten Einsatzfahrzeuge oder warfen Flaschen. In Wladiwostok ließ eine Gruppe Polizisten tatenlos einen Schneeballhagel über sich ergehen. Es gab Szenen, in denen sich Polizisten deeskalierend verhielten, sowie solche, in denen Schlagstöcke zum Einsatz kamen.

Laut Umfragen wächst die Bereitschaft der Russen, für ihre Rechte auf die Straße zu gehen. Über 40 Prozent gaben an, zum ersten Mal an einer Demonstration teilzunehmen. Dabei geht es nicht allen um Nawalnyj, sondern um Freiheit. 62 Prozent der Demonstranten waren junge Erwachsene. Sie erreicht das System Putin nicht mehr. Auf der Social-Media-Plattform „Tik-Tok“ machen sie sich über den „Opa im Betonbunker“ lustig, geben Tipps, wie man sich als Amerikaner ausgibt, um bei einer Demo der Verhaftung durch die Spezialeinheit Omon zu entgehen. 

Wird auch Nawalnyj selbst nur von zirka 20 Prozent der Russen unterstützt, so hat sein Palast-Video doch einen Nerv getroffen. Innerhalb nur weniger Tage wurde es 85 Millionen mal angesehen. In dem von einer Produktionsgesellschaft in Los Angeles produzierten und in den „Blackforest Studios“  in Kirchzarten final bearbeiteten Video stellt Nawalnyj Putin als raffgierigen und korrupten Politiker dar. In Drohnenaufnahmen des Anwesens und 3D-Animationen des Interieurs werden sündhaft teure Luxusgüter gezeigt, die geeignet sind, das Neidpotential des Betrachters zu schüren. Nawalnyj tritt eloquent und arrogant auf. Er erwähnt zwar, dass er bei den Interieuraufnahmen auf Katalogmaterial der italienischen Hersteller zurückgegriffen hat, nicht jedoch, dass jedes erdenkliche kompromittierende Material auf dem digitalen Schwarzmarkt käuflich erhältlich ist. Hier bedient sich laut eigenen Angaben auch das Recherchenetzwerk Bellingcat.

Einer für alle, alle für einen 

Neu ist, dass Nawalnyj Putin direkt angreift. Die Parole „Einer für alle, alle für einen“ zieht offenbar bei den literaturaffinen Russen. Nawalnyjs Rückhalt in der Bevölkerung ist seit seiner Rückkehr zwar gewachsen, doch möglicherweise überschätzt er – wie einst der Oligarch Michail Chodorkowskij – seinen Einfluss.

Experten wie der politische Beobachter Kirill Rogow glauben, dass die Massendemonstrationen nicht das Ergebnis des Nawalnyj-Films sind, sondern einer seit zehn Jahren anhaltenden latenten Unzufriedenheit. Putins größtes Problem ist die Jugend. Bei Leuten unter 30 gibt es kaum Putin-Freunde, während die Generation der über 60-Jährigen, die den Zerfall der Sowjetunion und die wirtschaftlichen Wirren nach der Perestrojka erlebt haben, in den 90er Jahren Putin, den „Mann aus den Organen“, dafür schätzen gelernt hat, dass er für Ordnung, Stabilität und eine Steigerung des Lebensstandards sorgte. 

Diese Einschätzung spiegelt sich auch in den Umfragen des Levada-Zentrums wider. In einem Jahresrückblick fasst Denis Wolkow die Umfrageergebnisse zusammen. Demnach hat die Corona-Krise zur Verschlechterung der Lagebewertung geführt. In der Bevölkerung wächst der Pessimismus, was sich auch auf die Wertschätzung des Präsidenten negativ auswirkt. Schon jetzt sind die Folgen des harten Lockdowns im Frühjahr sichtbar wie Arbeitslosigkeit, der Rückgang der Einkünfte, Insolvenzen sowie insgesamt eine Verschlechterung des Lebensstandards.

Der Bevölkerungsanteil der Unzufriedenen ist laut Levada-Zentrum auf 30 Prozent gestiegen, wobei es einen Unterschied zwischen Jung und Alt gibt. Eine Minderheit von 30 Prozent unterstützt die Opposition, die Mehrheit ist nach wie vor für Putin. Auch im Verhältnis zu Nawalnyj zeigt sich eine Kluft zwischen Jung und Alt. Das sei darauf zurückzuführen, woher sie ihre Informationen erhalten. Junge Leute, die das Internet nutzen, glauben, dass ihr Staat für die Vergiftung des Kremlkritikers verantwortlich sei. Ältere, die das staatliche Fernsehen ansehen, halten Spezialkräfte der USA für schuldig. Seine Unterstützer sehen in Nawalnyj eine politische Alternative zum herrschenden Regime. Er ist inzwischen in den Rang der zehn am vertrauenswürdigsten scheinenden Politiker aufgestiegen. Wie seine Zukunft aussieht, wenn seine Mitstreiter verhaftet und Kommunikationskanäle gekappt werden, ist ungewiss. 

Die Zukunft Putins werde von der wirtschaftlichen Lage abhängen, so Wolkow. Entscheidend ist jedoch auch, wie die Regierung mit Protesten umgeht. Dort, wo sie Zugeständnisse gemacht hat wie in Jekaterinburg, führte dies zur Beruhigung, dort, wo sie mit Härte durchgriff, gab es eine Eskalation wie in Chabarowsk, wo die Proteste gegen die Verhaftung des Gouverneurs schon ein halbes Jahr anhalten.

Bislang setzt Putins autokratisches Regime stets auf die allmähliche Zersetzung Andersdenkender. Verhaftungen sollen sie  demoralisieren und sie von politischer Einmischung abhalten. Wenn die Spezialeinheiten des Präsidenten allerdings den Enkeln seiner Unterstützer weiterhin bei Demonstrationen eins über den Schädel ziehen, ist fraglich, wie lange eine Putindämmerung noch auf sich warten lässt.