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29.01.21 / Ostpreussen 1945 / Suche mit glücklichem Ausgang / Otto Broszio fand seine Familie im Dorf Trautenau – Fortsetzung der Erinnerungen des Angerburger Stadtkassen-Angestellten

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 04-21 vom 29. Januar 2021

Ostpreussen 1945
Suche mit glücklichem Ausgang
Otto Broszio fand seine Familie im Dorf Trautenau – Fortsetzung der Erinnerungen des Angerburger Stadtkassen-Angestellten
Otto Broszio

Ich begab mich am 13. Juni 1945 mittags zur Kommandantur in Angerburg und wurde nach Aufnahme der Personalien in einen Keller geführt. Die russische Kommandantur befand sich in der Stadtsiedlung. Nach zirka drei Stunden wurde ich herausgeholt und in ein Haus gebracht, wo mir und zwei anderen Gefangenen etwas zu essen vorgesetzt wurde. Nun wurde ich abwechselnd mehrmals bei Tag und bei Nacht verhört.  

Ein paar Tage saß ich mit einem Zivilrussen zusammen, der jeden Tag von seiner Frau etwas Essbares durchs Kellerfenster zugesteckt bekam. So bekam er an einem Tag zwei gekochte Eier und etwas Brot. Er fing gleich an zu essen, und als er meinen verlangenden Blick sah, bekam er Mitleid und gab mir ein Ei ab. Ich bedankte mich und versprach ihm, falls ich hier herauskommen sollte, von meinem Tabak, den ich in der Wohnung hatte, zu geben. Darauf antwortete er: „Du nicht haben Tabak. Offizier hat alles mitgenommen, auch Anzug, du nichts haben.“ 

Am nächsten Tag sollte ich einen Stall säubern. Ich musste dabei an der Küche vorbei, in der für die Offiziere gekocht wurde. Da das Fenster offenstand, blieb ich stehen und sah hinein. Ich sah Frau Roszies, die gerade Frikadellen briet. Als sie mich sah, nahm sie kurzerhand eine Frikadelle von der Pfanne und gab sie mir. Da der Russe schon „dawei, dawei“ schrie, konnte ich das gute Stück nur noch schnell in der Tasche verschwinden lassen. 

Ausharren in Kellern

Am 12. Juli musste ich auf einen Lkw steigen. Die Fahrt ging nach Goldap. Ich wurde in einen Keller in der Angerburger Straße eingesperrt, wo schon andere Gefangene saßen. Nun begannen wieder die üblichen Verhöre bis zum Umfallen. Auch meinen Lebenslauf musste ich wieder schreiben. Jeden Morgen wurden wir zu einem Bach geführt, wo wir uns waschen konnten. Hierbei fanden wir Liebstöckel und würzten damit unsere Wassersuppe. Bei dieser Ernährung wäre ich bestimmt verhungert, wenn ich nicht ab und zu zum Kartoffelschälen in die Küche beordert worden wäre. 

Während des Marschs zurück nach Angerburg wurde ich von einem russischen Lkw eingeholt. Ich winkte mit meinem Zettel. Ob der Russe lesen konnte, weiß ich nicht, jedenfalls durfte ich aufsteigen, wobei mir ein Russe behilflich war, und konnte bis Budden mitfahren. Ich ging weiter und wurde sehr bald von einem Jagdwagen eingeholt. Der Wagen hielt und ein russischer Offizier winkte mich heran. Als ich nahe am Wagen war, erkannte ich ihn. Es war der Leutnant, der mich zuerst in Angerburg verhört hatte. Ich hielt ihm die Bescheinigung hin, und nachdem er sie gelesen hatte, befahl er mir, zum Kutscher auf den Bock zu steigen. Dieser war ein Bauer aus Am Walde, der die Offiziere zur Jagd fuhr. Kurz vor Angerburg hielt der Wagen und ich musste wieder absteigen. 

Am nächsten Tag meldete ich mich erst beim Bürgermeister, und dann ging ich zur nächsten Polizeistation, wie mir in Goldap befohlen. Ich meldete mich nun jeden Tag in der Dienstelle der Russen in der Bahnhofstraße. Als ich mich am 10. September wieder melden wollte, traf ich weder den Posten noch den Offizier an. Wie ich später erfuhr, war die Dienststelle aus Angerburg abgezogen worden. Jetzt gab es nur noch polnische Behörden in der Stadt. Da ich am nächsten Tag zur Arbeit eingeteilt werden sollte, meldete ich mich krank. Ich war dermaßen heruntergekommen, dass mich kaum noch die Füße trugen. Ich meldete mich beim Arzt und bekam sieben Tage Schonung. Als die Tage um waren, meldete ich mich im Krankenhaus und wurde von einer russischen Ärztin untersucht, die mich arbeitsunfähig schrieb. Ich war nun frei von Auflagen und konnte mich frei bewegen, bekam aber als Arbeitsunfähiger weniger Zuteilung aus dem Magazin. Da ich viel Zeit hatte, nahm ich mein Körbchen und zog los. So fand ich einen Steg, der von der Freiheitsstraße über den Fluss zum Garten der Oberschule führte. Dort entdeckte ich einen Apfelbaum, der noch einige Früchte hatte, die ich mitgehen ließ.

So fand ich immer etwas, das den Mittagstisch ein wenig aufbesserte. Am meisten freute ich mich über das Kartoffelfeld, das ich einige Tage später aufspürte. Es zog mich immer wieder hin zu meiner alten Wohnung in der Rademacherstraße und zum Garten, den ich angelegt hatte. Der Garten war kaum zu erkennen, so hoch war das Unkraut gewachsen. Trotzdem ging ich hinein und sah am Boden abgestorbenes Kartoffelkraut. Ich fing mit den Händen an zu buddeln, und der Erfolg war wie ein Geschenk des Himmels. In vier Stunden war mein Körbchen voll und ich kehrte zum Haus zurück. Bei meinen Wanderungen durch die Stadt begegnete ich auch einigen Bekannten, die ich nach dem Verbleib meiner Familie fragte. Leider konnte mir keiner etwas Genaues sagen. Da einige Angerburger zurückgekommen waren, nahm ich an, dass meine Frau mit den Kindern auch eines Tages hier eintreffen würde. Trotzdem fragte ich alle Neuankommenden aus, leider immer ohne Erfolg.

Zwischen Hoffen und Bangen

So verlief die Zeit in Hoffen und Bangen bis zum 15. Oktober. An diesem Tag traf ich Frau Groppler, die bei uns gewohnt hatte. Sie konnte mir sagen, dass meine Frau mit den Kindern in Trautenau und meine Frau schwer krank sei. Ich fragte, welchen Weg sie genommen hatte. Ich wollte so schnell wie möglich zu meiner Familie. Sie sagte, sie wolle nur einige Sachen packen und in ein paar Tagen zurückgehen. Wir könnten dann zusammen reisen. Ich solle mir aber von der polnischen Kreisbehörde einen Passierschein besorgen, sonst würde ich unterwegs festgehalten.

Am nächsten Morgen ging ich zur Behörde, die im Tepperschen Haus in der Kehlenerstraße untergebracht war, und habe eine Ausreisegenehmigung nach Trautenau, Kreis Heilsberg, beantragt. Diese wurde mir am 22. Oktober ausgehändigt. Inzwischen hatte ich Umschau nach einem Handwagen gehalten, den ich zerlegt in einem Stall fand. Bei diesem Streifzug bin ich auch in die Bahnhofstraße gekommen und vor der Brücke links in den Weg eingebogen, und hier fand ich einen Sack Salz, der schwer beschädigt war. Ich habe nun das Salz, das noch zu brauchen war, zusammengekratzt und in einen Beutel getan. Es werden mindestens 30 Pfund gewesen sein. Da Salz ein sehr rarer Artikel war, ließ ich einige Pfund bei Bekannten zurück. Ich setzte dann den Handwagen zusammen und bepackte ihn für den Abmarsch am nächsten Tag. 

Am 23. Oktober begann der Abmarsch nach Trautenau. Nachmittags erreichten wir Althof bei Barten und fanden hier Unterkunft bei einer deutschen Familie. Da es am nächsten Tag stark regnete, blieben wir noch eine Nacht. 

Am 25. Oktober ging es weiter über Barten bis Korschen. Auch hier fanden wir Unterkunft bei einer deutschen Familie. Am folgenden Tag erreichten wir am Spätnachmittag das Dorf Linglack. Es war wie ausgestorben. Da bemerkte ich eine Rauchfahne über einer alten Kate und sagte: „Da scheint noch jemand zu sein, wir wollen mal hingehen.“ Wir fanden in dem Haus zwei alte Frauen, die uns gerne aufnahmen. Sie sagten, dass die anderen Einwohner von den Polen vertrieben wurden. Da sie alt seien und keine Angehörigen hatten, versteckten sie sich tagelang. 

Wir übernachteten bei den Frauen und zogen am 27. Oktober weiter nach Trautenau. Unterwegs wurden wir von einem russischen Posten angehalten und nach Wertsachen untersucht. Ich zeigte ihm meine Bescheinigung. Ich sah, dass er den Zettel verkehrt hielt und wohl nicht lesen konnte. Darauf zeigte ich auf den Stempel und sagte: „Dies ist ein Dokument vom Offizier.“ Nachdem er den Stempel eine Weile studiert hatte, bekam ich den Schein zurück und wir konnten weiterziehen.

Um zwölf Uhr erreichten wir wohlbehalten Trautenau. Wir betraten ein Haus und Frau Groppler sagte, ich solle hier warten, sie werde eines der Kinder zu mir schicken, das mich dann zu meiner Frau führen könne, sie müsse noch weiter ins nächste Dorf. Ich brauchte nicht lange zu warten, da waren beide Kinder bei mir, die ich endlich umarmen konnte. Wir gingen zusammen zum Quartier, wo ich meine Frau im Bett liegend antraf. Ich war erschüttert über ihr Aussehen, war sie doch als blühende Frau von zu Hause weggegangen. 

Wie konnte und wie sollte ich helfen? Ein Arzt war nicht erreichbar. Mein Bestreben war nun, hier herauszukommen. Es ging ein Gerücht um, dass ab und zu ein Flüchtlingszug von Bischdorf in den Westen ging. Hierauf baute ich. Den Handwagen hatte ich vorsorglich in der Scheune im Stroh versteckt. Da die Ausreisegenehmigung nur auf meinen Namen lautete, musste ich noch eine Genehmigung für meine Frau und die Kinder besorgen. Auch Frau Goldberg und deren Tochter, die mit uns gehen wollten, mussten die Bescheinigung haben. 

Ich ging also am 7. November nach Bischofstein, wo ich die polnische Verwaltung fand. Der diensthabende Beamte sprach gut Deutsch. Er redete auf mich ein, doch zu bleiben. Die Verhältnisse würden sich bald bessern und alle Deutschen würden wieder Arbeit und Brot haben. Ich konnte nur immer wieder erklären, dass es um meine Frau ging, die so schnell wie möglich in ärztliche Behandlung kommen müsse. Endlich nahm er meinen Schein und trug darauf die Namen meiner Frau, meiner Kinder Hildegard und Anneliese sowie Frau Goldberg, und deren Tochter ein. Als ich ins Quartier zurückgekommen war, galt es, alles für den Aufbruch in den nächsten Tagen vorzubereiten. Abends wurde an der Tür, die durch einen Querbalken gesichert war, kräftig gepocht. Da wir nicht wollten, dass uns die Tür eingeschlagen würde, machte ich auf. Sogleich kamen ein russischer Soldat, der bewaffnet war, und ein Pole in Zivil zu uns ins Zimmer. 

Sorge um die Tochter

Sie sahen sich um, zeigten dann auf meine Tochter Anneliese und sagten: „Du mitkommen uns Kartoffeln schälen und kochen und dann wieder zurück.“ Aus dem anderen Zimmer musste eine junge Frau mitgehen. Als eine Stunde vergangen und meine Tochter nicht zurück war, wurde ich unruhig und bat Frau Goldberg, mit mir nachzusehen. Wir gingen hinaus und ich rief so laut ich konnte den Namen meiner Tochter. Als wir am Ende der Dorfstraße ankamen, hörten wir eine Stimme und sahen einen Schatten hinter einer Scheune. Es war Anneliese, die sich dort versteckt hatte. Sie erzählte, dass die beiden Männer mit ihnen bis zu einem Haus am Ende des Dorfes gegangen waren. In der Küche mussten sie Kartoffeln schälen und Flinsen backen, dann setzten sich alle an den Tisch und aßen. Nach dem Essen mussten sie das Geschirr abwaschen. Dann befahl der Russe der jungen Frau, ins Nebenzimmer zu gehen, wohin er bald folgte. Ihr zeigte der Pole das andere Zimmer und befahl, das Bett zu machen. Sie tat so, als ob sie nicht verstünde, versuchte nur ans Fenster zu gelangen und den Riegel zu lösen, was ihr auch gelang. Als der Pole auf sie zukam, nahm sie den Schemel, der vor ihr stand und warf ihn dem Polen entgegen, drehte sich schnell um und sprang durchs Fenster ins Freie.

Nun ging es ans Packen, Wäsche und Kleidung, soweit noch vorhanden, nahm jeder in seinen Rucksack. Dann musste für Verpflegung gesorgt werden, dazu habe ich stundenlang Roggen, den ich gedroschen hatte, auf einer Kaffeemühle gemahlen. Es wurden kleine Brote gebacken, damit jeder sein Brot im Rucksack mitnehmen konnte. Endlich kam der Tag, es war der 15. November, an dem wir uns auf den Weg zur Bahnstation nach Bischdorf aufmachten. In der Frühe holte ich den Handwagen aus der Scheune und legte die Säcke mit den Betten darauf. Da meine Frau nicht gehen konnte, habe ich die Betten so gelegt, dass sie einigermaßen sitzen konnte. Um acht Uhr früh brachen wir auf. Vier weitere Familien schlossen sich an.

Der Weg führte über Bischofstein. Als wir dort eintrafen, hielten uns polnischen Posten an und führten uns in eine Nebenstraße. Vor einer Scheune mussten wir unser Gepäck abladen. Die Polen nahmen alles, was sie gebrauchen konnten. Für jeden von uns blieb nur ein Stück Bettwäsche, auch an Kleidung ließen sie uns nur das Nötigste. Mir selbst zogen sie den Wintermantel aus und gaben mir einen alten Sommermantel. Sie sagten: „Bis jetzt haben wir gefroren, jetzt kannst auch du frieren, damit du weißt, wie das ist.“ Nachdem sie uns ausgeplündert hatten, durften wir weiterziehen und trafen um 17 Uhr am Bahnhof Bischdorf ein. Hier warteten wieder Polen auf uns, die es aber nur auf die Handwagen abgesehen hatten. Sie halfen noch mit abladen und zogen dann mit den Handwagen ab. Wir warteten nun im Bahnhofsgebäude auf den Zug, der nach mehreren Stunden einlief. Es waren offene Wagen, die wir besteigen durften. Bei dieser Gelegenheit nahmen die Polen noch die letzte Bettwäsche von Frau Goldberg fort und verschwanden in der Dunkelheit.

Um neun Uhr setzte sich der Zug in Bewegung. Es war sehr kalt und wir froren in der kalten Zugluft. Der Zug fuhr nur bis Allenstein. Wir standen mehr auf der Strecke, als dass wir fuhren, und erreichten erst um 19 Uhr auf einem Nebengleis den Bahnhof. Hier mussten wir den Zug verlassen. Da meine Frau nicht gehen konnte, bat ich einen Mann, mir beim Tragen behilflich zu sein. Wir nahmen unsere Rucksäcke auf und trugen meine Frau bis zum Bahnhofsgebäude. Unterwegs folgten uns einige Polen, die mir dann meinen Rucksack abschnitten. Ich konnte mich nicht wehren, denn wir gingen durch Schlamm und konnten meine Frau nicht absetzen. So ging auch meine letzte Habe verloren.