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29.01.21 / Zeitgeschichte / Sowjetische Kriegsgefangene in Deutschland / Zeitzeugenberichte und Dokumente beleuchten das Schicksal der „Ostarbeiter“

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 04-21 vom 29. Januar 2021

Zeitgeschichte
Sowjetische Kriegsgefangene in Deutschland
Zeitzeugenberichte und Dokumente beleuchten das Schicksal der „Ostarbeiter“
Karlheinz Lau

Die Thematik des Buches „Für immer gezeichnet. Die Geschichte der ,Ostarbeiter‘ in Briefen, Erinnerungen und Interviews“ behandelt einen der größten weißen Flecken in der Geschichte des Zweiten Weltkrieges, hier der deutsch-sowjetischen Geschichte. 

Es ist das Schicksal von Millionen sowjetischer Frauen und auch Männer, die in den Jahren 1941 bis 42 sowie 1943 aus den von der Wehrmacht besetzten Gebieten Ostmitteleuropas als Arbeitskräfte in der Rüstungsindustrie, in der Landwirtschaft und in Privathaushalten herangezogen wurden. Es waren überwiegend unmenschliche Arbeitsbedingungen, die Zahl der Gestorbenen war erschreckend hoch. 

Thema weitgehend unbekannt

Dieses Kapitel der Geschichte des Krieges ist in Deutschland weitgehend unbekannt, und je länger der zeitliche Abstand wird, desto weniger ist damit zu rechnen, dass sich das ändert, obwohl Literatur zu diesem Thema verfügbar ist. Dazu zählt auch dieses Buch. Es ist keine historische Abhandlung und auch keine Sammlung von Archivdokumenten, sondern es wurden Tausende von Memoiren, Dokumenten, Briefen und erhaltenen Fotografien ausgewertet, hinzu kamen Interviews mit noch lebenden Zeitzeugen. 

Im Herbst 1941 lebten zirka 60 Millionen Sowjetbürger in Gebieten, die von der Wehrmacht besetzt worden waren. Im Frühjahr 1942 begann die organisierte Rekrutierung junger Menschen zur Zwangsarbeit nach Deutschland, Archivunterlagen belegen, dass es mehr als 3,2 Millionen Menschen waren. 

Die Sammlung der unzähligen Materialien war und ist eine Initiative der Menschenrechtsorganisation Memorial International, die sich noch vor dem Ende der Sowjetunion als breite gesellschaftlich Bewegung sammelte. Einer ihrer Ideengeber war der bekannte Physiker Andrej Sacharow. Im Zuge ihrer Forschungen über die Geschichte des deutsch-sowjetischen Krieges fand Memorial in der Heinrich-Böll-Stiftung einen deutschen Partner, der sich ebenfalls mit dieser Thematik beschäftigt. Ein Ergebnis ist die vorliegende Publikation, die als russische Originalausgabe bereits 2016 erschienen ist. Hunderte von unterschiedlichen Materialien wurden ausgewertet, die ein erschütterndes Bild von den Schicksalen der überwiegend jungen Frauen und Männer vermitteln, wobei die Lebensumstände in den Industriebetrieben weitaus schlimmer waren als in der Landwirtschaft oder in einzelnen deutschen Familien. 

In der Regel waren die Menschen in primitiven und unhygienischen Sammelunterkünften untergebracht, postalische Verbindung mit ihrer Heimat funktionierte sporadisch, wenn etwa die Kriegslage es zuließ. Die Materialien und die zahlreichen Fotos zeigen die bedrückenden Verhältnisse in erschreckender Weise, wie die Menschen ohne Perspektive leben mussten. Die Erinnerung an die Heimat und die noch dort lebenden Verwandten bewegte sie besonders stark in den arbeitsfreien Zeiten. Es gab aber auch Berichte über positive Erfahrungen, besonders bei jungen Frauen, die in Familien oder auch auf Bauernhöfen untergekommen waren. 

Mit der sich nähernden Ostfront und der sich abzeichnenden Niederlage Deutschlands wuchs die Hoffnung der Ostarbeiter auf eine baldige Befreiung und Rückkehr in die Heimat. Zum Zeitpunkt der Befreiung herrschte ein großes Chaos in den von den Sowjets und den Amerikanern und Briten besetzten Gebieten. Ausbrüche von unendlicher Freude, Plünderungen und Rachegefühle an den Deutschen beherrschten die ersten Tage und Wochen, bis die Alliierten in ihren Besatzungszonen anfingen, die chaotischen Verhältnisse abzubauen. Neben der einheimischen deutschen Bevölkerung – viele waren ausgebombt oder hatten durch die Endkämpfe ihre Wohnungen verloren – deutschen Flüchtlingen aus den Ostprovinzen, Ostarbeitern, Kriegsgefangenen vieler europäischer Nationen und KZ-Häftlingen waren es Millionen von Menschen, die oft ziellos durch das Land zogen. 

Millionen zogen ziellos umher

Die ausgewerteten Materialien zeigen die ganze Gefühlspalette der Trauer, der Angst, der Freude, der Erwartungen und Hoffnungen, der Wut und des Hasses. Dann kam der große Schock: Alle Sowjetbürger in deutscher Gefangenschaft, also Ostarbeiter, Kriegsgefangene und KZ-Insassen, wurden entgegen den Erwartungen bei ihrer Rückkehr in die UdSSR nicht als befreite Helden, die den Dank des Vaterlandes erhielten, sondern als Verräter, Kollaborateure und Volksfeinde empfangen. Sie wurden teilweise wieder für die Industrieproduktion und zum Militär oder in den GULAG zwangsverpflichtet – kurzum, sie galten generell als Bürger zweiter Klasse, als Repatriierte. Die Rückführung war also keine freiwillige Angelegenheit. 

Unter den Alliierten herrschte Konsens darüber, dass jeder Sowjetbürger verpflichtet war, in die UdSSR zurückzukehren. Die Herausgeber des Buches bekennen freimütig, ursprünglich nur die allgemeinen Fakten über sowjetische Zwangsarbeiter gekannt zu haben. Erst bei Auswertung der Materialien mussten sie erkennen, wie „tief das Trauma der Menschen war, die als Jugendliche gewaltsam von zu Hause verschleppt und ins Feindesland gebracht worden waren, verurteilt zu Sklavenarbeit, Hunger und Erniedrigungen. Ihre Erinnerungen an das Erlebte passten in keine der üblichen Geschichten vom Zweiten Weltkrieg.“ Nach der Lektüre des Buches kann diesem Satz voll zugestimmt werden.

Anfang Oktober 2020 hat der Deutsche Bundestag die Errichtung einer Dokumentations-, Bildungs- und Erinnerungsstätte zur Geschichte und Aufarbeitung des Zweiten Weltkriegs und der NS-Herrschaft in den damals besetzten Ländern Europas beschlossen. Dabei sollen auch die Opfergruppen berücksichtigt werden, die bislang weniger beachtet wurden. Dazu gehören ohne Zweifel die Ostarbeiter, aber auch das Schicksal der sowjetischen Kriegsgefangenen. Eine Abgeordnete mahnte ohne Widerspruch, dass Vergessen drohe und die Zeitzeugen sterben. Ihr Zeugnis sei allerdings unverzichtbar für das Erinnern und die historische Aufarbeitung.

Irina Scherbakowa/Heinrich-Böll-Stiftung (Hg.): „Für immer gezeichnet. Die Geschichte der ,Ostarbeiter‘ in Briefen, Erinnerungen und Interviews“, Christoph Links Verlag, Berlin 2019, gebunden, 424 Seiten, 28 Euro