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05.02.21 / Zehn Jahre „Arabischer Frühling“ Wie in Windeseile breitete sich 2011 in vielen arabischen Staaten eine Protestbewegung gegen die damaligen Herrscher aus – Was blieb vom Kampf der Jugend um Veränderung? / Enttäuschte Hoffnungen / Ein Jahrzehnt nach der „Arabellion“ wird die Region noch immer durch Konflikte erschüttert und kommt nicht zur Ruhe

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 05-21 vom 05. Februar 2021

Zehn Jahre „Arabischer Frühling“ Wie in Windeseile breitete sich 2011 in vielen arabischen Staaten eine Protestbewegung gegen die damaligen Herrscher aus – Was blieb vom Kampf der Jugend um Veränderung?
Enttäuschte Hoffnungen
Ein Jahrzehnt nach der „Arabellion“ wird die Region noch immer durch Konflikte erschüttert und kommt nicht zur Ruhe
Manuela Rosenthal-Kappi

Im Gespräch mit Jörg Armbruster

Jörg Armbruster, 1947 in Tübingen  geboren, arbeitete über zehn Jahre lang als ARD-Auslandskorrespondent im arabischen Raum. Vom ARD-Studio in Kairo aus war er in 15 arabischen Ländern unterwegs. So wurde er auch Zeuge des sogenannten Arabischen Frühlings, des Massenaufstands gegen die autoritären Regime. 2011 berichtete er über den Rücktritt des ägyptischen Herrschers Hosni Mubarak und den Jubel der Menschen. Vor anderthalb Jahren bereiste er die Region erneut und sprach mit Oppositionellen darüber, was von dem Aufbruch geblieben ist. In seinem Buch „Die Erben der Revolution. Was bleibt vom Arabischen Frühling?“ geht er Ursache und Wirkung der Ereignisse auf den Grund. 

Herr Armbruster, vor zehn Jahren wurden Sie Zeuge der „Arabischen Revolution“ in Kairo. Als ARD-Auslandskorrespondent waren sie live dabei, als Hosni Mubarak seinen Rücktritt erklärte. Sie schreiben in Ihrem Buch, dass die Ursachen für die Ereignisse ab 2011 weit in die Vergangenheit zurückreichten. Können Sie kurz schildern, was der Nährboden und schließlich der Auslöser für die Unruhen war?

Jörg Armbruster: Zweifellos hat die weitverbreitete Korruption in den Ländern ganz entscheidend zu dem Aufstand beigetragen. Außerdem die Perspektivlosigkeit der Jugend in den meisten arabischen Ländern. Gut ausgebildet, aber keinen Job, das war fast die Regel. Hinzu kamen Unterdrückung und Repression. Alles Faktoren, die es schon sehr lange gibt in diesen Ländern. Die Opposition hatte sich schon lange vorher organisiert, erst im Kleinen und heimlich, dann immer offener trotz der Repression.  Es waren also sehr junge Menschen, die den Mut hatten, der Obrigkeit die Stirn zu bieten.


Sie schildern die Lage in Ägypten, im Sudan und in Tunesien. Kann man diese Länder überhaupt vergleichen und die „Arabellion“ pauschal als Aufstand der Unterdrückten in muslimischen Ländern betrachten?

Man kann die Länder sicherlich nur bedingt miteinander vergleichen. Doch Repression, Unterdrückung, Folter gab es in allen drei Ländern wie auch in Ländern wie Libyen, Syrien oder Saudi-Arabien. Diese „Gemeinsamkeiten“ haben letztendlich zu den Aufständen der Unterdrückten geführt.


Sie schreiben, dass Frauen, die sich nicht länger von einer von Männern beherrschten, Scharia-konformen Gesellschaft bevormunden lassen wollten, eine große Rolle bei der Vorbereitung zur Rebellion gespielt haben. Ging es dabei um eine Befreiung der Frau nach westlichem Vorbild oder müssen wir von einem ganz anderen Frauenbild ausgehen?

Ich weiß nicht, was Sie unter einer Scharia-konformen Gesellschaft verstehen. Die Scharia spielt in den meisten arabischen Ländern überhaupt keine Rolle. Ägypten hatte auch unter Mubarak eine Verfassung ganz ohne Scharia, genauso Tunesien oder Syrien. Eine Rolle spielen eher die patriarchalischen Gesellschaften, die aber nichts mit Islam oder gar Scharia zu tun haben. Die Frauen wollten frei und selbstständig sein, ob nach westlichem Vorbild oder einem anderen, ist sicherlich von Land zu Land und Frau zu Frau verschieden.


Um auf das Beispiel Ägypten zurückzukommen, das in Ihrem Buch einen großen Raum einnimmt. Nach dem Sturz Mubaraks übernahmen mit Mohammed Mursi an der Spitze die Muslimbrüder die Macht und sorgten für eine Radikalisierung der Gesellschaft. Welche Rolle spielt der radikale Islam für den Misserfolg der Revolution?

Mursi wurde sehr knapp in den ersten freien Wahlen des Landes gewählt, die ägyptische Gesellschaft in irgendeiner Form zu radikalisieren war nicht sein Programm. Selbst wenn er es gewollt hätte, hätte er viel zu wenig Zeit dazu gehabt. Er war sicherlich ein ungeschickt hantierender Politiker. Vielleicht wollte er tatsächlich so etwas wie eine von Religionsdoktrinen geleitete Gesellschaft, die aber von einer Mehrheit der Ägypter abgelehnt wurde. Entscheidend zu seinem Scheitern hat der Widerstand des Militärs, der Gerichte, der Polizei und der Verwaltung beigetragen und am Ende natürlich der Putsch. Gegen diesen alten Machtapparat hatte er keine Chance.


Welche Fehler hat der Westen gemacht im Umgang mit dem Mursi-Regime? Immerhin sind die Muslimbrüder seit fast 100 Jahren eine durchgehend gefestigte politische Formation. Hätte man stärker das Gespräch suchen müssen?

Ob Gespräche genutzt hätten, bezweifele ich. Der Westen hatte allerdings vom ersten Tag an dem neuen Präsidenten misstraut und ihm Kredite verweigert, mit denen er vielleicht die Wirtschaft hätte stabilisieren können. Außerdem wollte die alte ägyptische Elite ihn loswerden. Der Westen hätte vermutlich den Putsch kaum verhindern können, wenn er gewollt hätte. Aber ob er das wirklich gewollt hatte, kann man bezweifeln.


Sie kreiden der EU-Politik an, dass sie zwar die Demokratisierung in den arabischen Ländern pro forma unterstützt, aber durch falsche Prioritätensetzung die Konflikte in der Region befeuert hätten anstatt der eher schwachen demokratisch gesinnten Opposition zu helfen. Besonders kritisieren Sie die Waffenlieferungen der Bundesregierung trotz der Kenntnis von Folter und Menschenrechtsverletzungen unter dem heutigen Staatsoberhaupt al-Sisi. Wie sollten die USA, EU und insbesondere Deutschland sich Ihrer Meinung nach verhalten?

Keine Waffen liefern und al-Sisi nicht zum angesehenen Partner machen. Keine Waffen gilt auch für die übrigen Länder des Nahen Ostens.

Ist eine Demokratie nach westlichem Vorbild in einem muslimischen Land überhaupt vorstellbar? Welche Voraussetzungen bräuchte es, um dorthin zu kommen?

Natürlich ist das möglich. Auch im Westen gibt es ganz unterschiedliche Demokratiemodelle. Jedes Land und jede Gesellschaft muss die Chance haben, eigene Demokratien also offene Gesellschaften zu entwickeln. Vor zehn Jahren haben das die arabischen Menschen versucht und sind bis auf Tunesien gescheitert, weil die Widerstände der alten Eliten zu groß waren. Mit Religion hat das alles nichts zu tun. Auch die Kirchen in Deutschland waren anfangs keine glühenden Vorkämpfer für Demokratie. Eine wichtige Voraussetzung ist, dass solche Versuche nicht behindert werden. Weder von innen noch von außen.


Zehn Jahre nach der „Arabischen Revolution“ haben Sie einige der Gesprächspartner aus Ihrer Zeit als Korrespondent der ARD in Kairo wiedergetroffen. Die meisten von ihnen hatten Gefängnis, Demoralisierung und Folter über sich ergehen lassen müssen. Wie hat sie diese Erfahrung verändert?

Einige sind verbittert, andere verhärtet, ohne die Hoffnung auf eine bessere Zukunft aufzugeben. Niemand, den ich gesprochen habe, bereut die Erhebung auf dem Tahrirplatz.


Welche Hoffnung auf eine bessere Zukunft gibt es für Ägypten, den Sudan und Tunesien?

Die Jugend hat viel gelernt in den letzten Jahren. Die Zeit vor zehn Jahren hat bei vielen tiefe Spuren hinterlassen. Als Antwort habe ich häufig bekommen: „Wir wissen, was wir falsch gemacht haben. Diese Fehler machen wir beim nächsten Mal nicht mehr.“ Sie wissen aber auch, dass eine solche Entwicklung sehr lange dauern kann. Man darf aber nicht vergessen: Auch Deutschland hat sehr lange gebraucht, ehe es eine stabile Demokratie bekommen hat. 

Das Interview führte Manuela Rosenthal-Kappi

Jörg Armbruster: „Die Erben der Revolution. Was bleibt vom Arabischen Frühling?“, Hoffmann und Campe Verlag, Hamburg 2021, gebunden, 304 Seiten, 25 Euro