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19.02.21 / Kronstädter Matrosenaufstand / „Alle Macht den Räten – Keine Macht der Partei“ / Auf Seiten der Revolution als Elitetruppe im Kampf gegen die Weißen – Lenin enttäuschte seine vormaligen Verbündeten schwer

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 07-21 vom 19. Februar 2021

Kronstädter Matrosenaufstand
„Alle Macht den Räten – Keine Macht der Partei“
Auf Seiten der Revolution als Elitetruppe im Kampf gegen die Weißen – Lenin enttäuschte seine vormaligen Verbündeten schwer
Manuela Rosenthal-Kappi

Eure Söhne werden sich für euch schämen. Sie werden euch den heutigen Tag nie verzeihen, die Stunde, in der ihr aus eigenem Willen die Arbeiterklasse verraten habt“, schleuderte der aus Moskau angereiste Michail Iwanowitsch Kalinin, Vorsitzender des Zentralexekutivkomitees der Sowjets, den Beteiligten des Kronstädter Matrosenaufstands am 1. März 1921 auf dem Ankerplatz in Kronstadt entgegen. „Beende das alte Lied“ und „Gib uns Brot“ und „Alle Macht den Räten – Keine Macht der Partei“, skandierten die Aufständischen. Kalinin kam nicht mehr zu Wort. Mit ohrenbetäubendem Lärm pfiff ihn die Masse von zirka 16.000 wütenden Matrosen und Arbeitern aus. 

Das Ereignis, das vor 100 Jahren als Kronstädter Matrosenaufstand in die Geschichte einging, hatte seinen Ursprung in der Russischen Revolution von 1917 und den Wirren des anschließenden Bürgerkriegs, der von 1918 bis 1920 tobte. Wegen der katastrophalen wirtschaftlichen Zustände litten die Menschen Hunger und Not. In Russland gab es gegen Wladimir Lenins „Kriegskommunismus“ eine Welle von Bauernprotesten und Arbeiterstreiks. Geld war als Zahlungsmittel praktisch wertlos geworden. „Jeder Laib Brot“ und „jedes Pud (16,38 Kilogramm) Kohle“ wurden direkt verteilt, was dazu führte, dass Ende 1920, Anfang 1921 die Wirtschaft völlig am Boden lag. Die Krise nahm ihren Lauf. 

Kommunisten schlossen Fabriken

Am 11. Februar beschloss die Kommunistische Partei, wegen der Brennstoffkrise im ganzen Land 93 Fabriken, darunter die berühmten Putilow-Werke in Petrograd – eine wichtige Industriefabrik, die neben Schienenfahrzeugen auch Geschütze herstellte –, zu schließen. Massenstreiks in der zweiten Februarhälfte waren die Folge. 

Doch anstatt auf die Forderungen der Arbeiter einzugehen, in deren Namen ja eigentlich die Russische Revolution stattgefunden hatte, verhängten die Petrograder Parteioberen das Kriegsrecht und ließen massenweise Arbeiter verhaften. Ein folgenschwerer Fehler, denn weder die Protestaktion der Arbeiter noch die der Bauern hatte zunächst einen politischen Charakter. Die streikenden Arbeiter in Petrograd stellten die Macht der kommunistischen Partei gar nicht in Frage. Bei ihrem Protest ging es darum, die Errungenschaften der Revolution wiederherzustellen. 

 Die Erhebung der Kronstädter Matrosen hatte als Sympathiebekundung für die Petrograder Arbeiter begonnen. Sie mündete jedoch am 28. Februar 1921 in einer Resolution, verfasst von der Besatzung des Schlachtschiffs „Petropawlowsk“. Bei der genannten Versammlung in Kronstadt forderten die Matrosen Neuwahlen des Sowjets mit geheimer Stimmabgabe, Rede- und Pressefreiheit, die Wiederherstellung der Grundfreiheiten für Arbeiter und Bauern, Anarchisten und linkssozialistische Parteien sowie die Befreiung aller politischen Gefangenen.

Noch glaubten die Matrosen fest daran, dass Lenin sie verstehen würde. Schließlich waren die Kronstädter Matrosen die militärische Hauptmacht der Bolschewiki während der Oktoberrevolution in Petrograd gewesen. Als Elitetruppe hatten sie die Kommunistische Partei im Bürgerkrieg gegen die Weiße Armee und deren westliche Alliierte unterstützt. Sicher verstand Lenin, worum es ging, aber er reagierte anders als die Matrosen es jemals erwartet hätten: Da er die Macht und die Einheit der Partei gefährdet sah, schickte er am 7. März die Armee los, um die Matrosen anzugreifen. Vier Jahre nach der Februarrevolution war die Optik des Arbeiter- und Bauernparadieses zerstört worden und ausgerechnet der Stolz der Revolution – die Matrosen der Baltischen Flotte – hatten sich erhoben. Dabei schien es der kommunistischen Führung nicht peinlich zu sein, dass ihre Gegner jetzt nicht mehr die früheren Herren waren, sondern die arbeitende Masse. 

Lenin zeigte sich keineswegs tolerant gegenüber Meinungen, die von seiner abwichen. Die Partei hatte in den Jahren 1920/21 eine schwere Krise im Inneren erlitten, zu der zum einen die Spannung zwischen dem Volkskommissar für das Kriegswesen, Leo Trotzkij, und Gewerkschaften sowie zum anderen der Machtkampf zwischen dem Politbüro-Mitglied Grigorij Sinowjew und Trotzkij geführt hatten. 

Auf dem unmittelbar vor dem Matrosenaufstand durchgeführten 10. Parteitag hatte Lenin zwei Resolutionen eingebracht. Eine betraf die „Parteieinheit“ mit Hinblick auf Kronstadt: Alle Gruppen mit einer eigenen Plattform sollten sofort aus der Partei ausgeschlossen werden. Eine zweite betraf die Aufgaben der Gewerkschaften. Daraus ging eindeutig hervor, dass diese nichts anderes als ein gefügiges Werkzeug in der Hand der Parteiführung sein sollten. Parteieinheit bedeutete künftig bedingungslose und widerspruchslose Alleinherrschaft des Zentralkomitees. 

Soldaten wurden gezwungen

Die eingesetzten Einheiten der Roten Armee mussten allerdings gezwungen werden, sich an der Niederschlagung des Matrosenaufstands zu beteiligen. Am 26. Februar erhielt die in Nowgorod eingesetzte Militäreinheit den Befehl, in Petrograd zu kämpfen. Zirka 700 Kämpfer liefen davon. Ihre Gewehre nahmen sie mit, und örtliche Bauern demontierten die Bahnschienen.

Die ersten Rückeroberungsversuche in Kronstadt scheiterten denn auch. Am 

16. März stockte die Partei die 7. Armee auf 45.000 Soldaten auf. Den weiteren Kampf gegen die Aufständischen führte Trotzkij persönlich an. Außerdem eilten 200 Delegierte des 10. Parteitags aus Moskau herbei, um die Moral der Angreifer zu stärken. Am 18. März fiel Kronstadt endlich. 2500 Ma-trosen wurden verhaftet, mehr als 1000 getötet und 2000 verletzt. Etwa 6000 bis 8000 Matrosen gelang die Flucht über das Meer nach Finnland. Selbst die Angehörigen der aufständischen Matrosen wurden noch verfolgt und hart bestraft. 

 Ob die Erhebung der Matrosen der Baltischen Flotte in Kronstadt ein von außen beeinflusster Putschversuch war, wie die sowjetische Geschichtsschreibung lange behauptet hat, konnte nie eindeutig geklärt werden. Als gesichert gilt hingegen, dass der Matrosenaufstand möglich geworden war, weil während des Bürgerkriegs der Personalbestand der Baltischen Flotte wie auch der Roten Armee mit Bauern aufgefüllt worden war, die mit der Wirtschaftspolitik der sowjetischen Machthaber unzufrieden waren. 

Am 10. Januar 1994 hat Boris Jelzin die Teilnehmer am Kronstädter Matrosenaufstand rehabilitiert.