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05.03.21 / 75 Jahre Freie Deutsche Jugend / „Wir Jungpioniere lieben unsere Deutsche Demokratische Republik“ / Die Zugehörigkeit zur Staatsjugend war in der DDR für die schulische und berufliche Entwicklung wichtig, und nur wenige widerstanden dieser Vereinnahmung

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 09-21 vom 03. März 2021

75 Jahre Freie Deutsche Jugend
„Wir Jungpioniere lieben unsere Deutsche Demokratische Republik“
Die Zugehörigkeit zur Staatsjugend war in der DDR für die schulische und berufliche Entwicklung wichtig, und nur wenige widerstanden dieser Vereinnahmung
Heidrun Budde

Blaues Halstuch mit weißer Bluse für Jungpioniere, rotes Halstuch als „Thälmann-Pionier“ und mit 14 Jahren die blaue Bluse mit dem Emblem der „Freien Deutschen Jugend“ (FDJ) – das war der übliche Entwicklungsweg der Kinder und Jugendlichen in der DDR. Die Zugehörigkeit zu diesen Gruppen war für die schulische und berufliche Entwicklung wichtig, und nur wenige widerstanden dieser Vereinnahmung.

Die Kinder der ersten Klasse bekamen einen Pionierausweis mit diesem Eintrag: „Ich verspreche ein guter Jungpionier zu sein. Ich will nach den Geboten der Jungpioniere handeln.“ Das erste Gebot lautete: „Wir Jungpioniere lieben unsere Deutsche Demokratische Republik.“ Die politische Vereinnahmung der Kinder begann früh. 

Lehrer sorgten nicht nur dafür, dass die Schüler Lesen und Schreiben lernten. Sie hatten auch den Auftrag, „sozialistische Persönlichkeiten“ zu erziehen. In den einstmals internen Dokumenten werden Lehrer als „Leiter eines politisch organisierten Kinderkollektivs“, „Schulfunktionäre“, „politische Funktionäre“, „Staatsfunktionäre“ und „Beauftragte der Arbeiterklasse“ bezeichnet.

Die Kontrolle war lückenlos

Die Pionierorganisation und die FDJ waren „gesellschaftliche Organisationen“ zur Unterstützung der „sozialistischen Erziehung“ durch die Lehrer. Die Kinder und Jugendlichen wurden frühzeitig an das Funktionärsleben herangeführt. Gruppenräte der Pioniere und gewählte FDJ-Leitungen für Jugendliche organisierten „Schnitzeljagden“, Geländespiele und Jugendtanzveranstaltungen, aber auch „FDJ-Studienjahre“ mit „Leitpropagandisten“, um den Heranwachsenden die „Vorzüge des Sozialismus“ zu verdeutlichen. 

Lob und Tadel wurden öffentlich beim Fahnenappell ausgesprochen, und die Kontrolle war lückenlos. Dem Stadtschulrat von Rostock mussten Verstöße von Schülern „gemäß einer internen Weisung des Ministers für Volksbildung“ als „Besondere Vorkommnisse“ gemeldet werden. Im Februar 1975 hatte beispielsweise ein Schüler der 2. Klasse einen Zettel mit einer Einladung der St.-Andreas-Gemeinde zu einem Gesprächsgottesdienst im Speiseraum der Schule verloren. Thema: „Wie können wir unseren Kindern helfen, damit fertig zu werden, daß andere Kinder sich über die Kirche und die Christenlehre lustig machen?“

Dieser verlorengegangene Zettel wurde als „Besonderes Vorkommnis 26/28/75 – Rostock-Stadt“ vom Stadtschulrat an den Bezirksschulrat, den Oberbürgermeister der Stadt, an die Kreisleitung der SED und an die Kreisdienststelle des Ministeriums für Staatssicherheit verschickt. Der Zettelinhaber, das Kind aus der 2. Klasse, wurde denunziert, weil es kirchlich gebunden war. Das Überwachungssystem funktionierte dank der systemtreuen Helfer reibungslos. 

Die FDJ mit ihrer Funktionärshierarchie gehörte zu den „gesellschaftlichen Organisationen“, die bei der Unterbindung von Übersiedlungsanträgen in die Bundesrepublik mithelfen sollten. Am 11. Juli 1984 erteilte der Staatssekretär beim Ministerrat der DDR, Kurt Kleinert, in der „Vertraulichen Verschlußsache B 2 -I 084246“ dazu diesen Auftrag: „Variabler sind die Möglichkeiten der Einbeziehung geeigneter Funktionäre der verschiedensten gesellschaftlichen Organisationen und des Einsatzes von Paten oder Betreuern zu erschließen, um den ausreisewilligen Bürgern eine klare Haltung bei der Ablehnung ihrer Absichten deutlich zu machen und ihnen die politisch-moralische Verwerflichkeit ihrer Übersiedlungsversuche überzeugend aufzuzeigen.“

Neben dieser politischen Erziehungsfunktion bekam die FDJ auch Aufgaben, deren Sinn nicht hinterfragt werden durfte. Am 30. April 1980 bestätigte die SED-Bezirksleitung Rostock eine „Besucherkonzeption“ für die Aufführung der Ballade „Klaus Störtebeker“ in Ralswiek. Ziel war es, „alle Voraussetzungen zur besuchsmäßigen Absicherung dieses politisch und kulturpolitisch bedeutsamen Höhepunktes im Kulturleben der DDR zu schaffen.“

In dieser „Besucherkonzeption“ ist unter Punkt 4 zu lesen: „Die Bezirksleitung der FDJ sichert über alle Kreisleitungen der FDJ eine hohe Beteiligung der Jugend am Besuch der Vorstellungen und übergibt klare Aufgabenstellungen zur Realisierung ihres Auftrages. Der 1. Juli wird als ,Tag der FDJ‘ durch die Bezirksleitung der FDJ eigenverantwortlich gestaltet. Über Jugendtourist sind Fahrten in größerem Umfang zum Besuch der Vorstellungen in Ralswiek zu planen und zu organisieren.“

FDJ-Reisebüro „Jugendtourist“ 

Es war nicht wichtig, ob sich Jugendliche tatsächlich für diese Ballade interessierten. Die SED-Funktionäre wollten ausverkaufte Veranstaltungen, und die FDJ mit ihrem Reisebüro „Jugendtourist“ bekam die Anweisung, das zu unterstützen. Viele FDJ-Mitglieder hätten aber lieber andere, begehrte Reisen über „Jugendtourist“ gebucht, die es auch gab, wie beispielsweise nach Frankreich, Mexiko, Tunesien, Österreich, Malta, Kuba oder in die Bundesrepublik. Doch nach welchen Kriterien diese Reisen vergeben wurden, blieb den Antragstellern völlig verborgen. Heute ist in der nunmehr zugänglichen Akte „Reisebüro und Jugendtouristik Ablehnungen“ zu lesen, warum ein Jugendlicher zu Hause zu bleiben hatte:

Reise nach Algerien: „Wurde im November 1985 von der Funktion des FDJ-Sekretärs entbunden. Keine positive politische Meinung zur Politik der DDR. Oft Männerbekanntschaften und häufiger Alkoholgenuß.“

Reise nach Kuba: „Sie ist ledig und hat keine Bindungen in der DDR. Sie wohnt im Elternhaus, wo die Familienverhältnisse nicht geordnet sind. Alkohol spielt dabei eine wesentliche Rolle. In ihrer Freizeit lebt sie zurückgezogen und hat zu ihren Mitmenschen keinen Kontakt. Seit 1983 stellt sie regelmäßig mehrmals im Jahr Anträge auf Einreisen aus der BRD von Bürgern in ihrem Alter, mit denen sie in keinem verwandtschaftlichen Verhältnis steht.“ 

Reise in die Bundesrepublik: „ledig, keine geordneten familiären Verhältnisse, schlechter Leumund, oftmals viel Radau in seiner Wohnung, Umgang mit negativem Personenkreis, darunter auch Antragsteller auf Übersiedlung, kommt Pflichten im Haus nicht nach, keine gesellschaftlichen Aktivitäten, Einstellung zur Politik d. Partei negativ, kein Interesse mehr an Tätigkeit als FDJ-Sekretär, seit 09.06.1986 von Funktion abgesetzt.“

Reise zu einem Filmballett nach Tunesien: „Charakterlich unfreundlich und provozierend. Einstellung ist pro westlich. In der Familie werden enge Kontakte zur BRD gepflegt z. Zt. ist Besuch da. Mutter will nach Versorgung der Tochter Übersiedlungsantrag stellen. Laut ABV ist Rückkehr nicht gewährleistet.“

Kein Jugendlicher kannte diese bösartigen Informationen, die heimlich zusammengetragen wurden. Eine Begründung für die Ablehnung des Reisewunsches erhielt niemand, und einen Klageweg gab es nicht. Die FDJ-Mitglieder wussten nur, dass einige Auserwählte über „Jugendtourist“ reisen durften, während ihnen das gleiche Recht versagt blieb. 

Ein solcher Umgang erzeugte Frust, Aufbegehren und Rebellion. Die Jugend verweigerte immer mehr den eingeforderten bedingungslosen politischen Gehorsam. Sie wollten ein selbstbestimmtes Leben ohne FDJ und ohne politische Bevormundung.






Dr. Heidrun Budde (geboren 1954 in der DDR) war von 1992 bis März 2020 wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Juristischen Fakultät der Universität Rostock. Zu ihren Büchern gehört „Verstorbene Babys in der DDR? Fragen ohne Antworten“ (tredition 2020)





Entwicklung der FDJ-Mitgliederzahl zu SBZ/DDR-Zeiten

0,4 Millionen im Jahre 1947, also ein Jahr nach der FDJ-Gründung. Das entspricht einem Organisationsgrad von 16 Prozent.

1 Million im Jahr 1949, also dem Gründungsjahr von DDR und Bundesrepublik. Das entspricht einem Organisationsgrad von 33 Prozent.

2,3 Millionen im Jahre 1989, also dem Jahr der Friedlichen Revolution. Das entspricht einem Organisationsgrad von 88 Prozent.