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05.03.21 / Dystopie / Zurück in die Zukunft von „1984“ / Orwells Romanklassiker auf Jugendlich – Philip Kerr warnt in „1984.4“ die Smartphone-Generation vor totalitär angeordneter Verachtung von Senioren

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 09-21 vom 03. März 2021

Dystopie
Zurück in die Zukunft von „1984“
Orwells Romanklassiker auf Jugendlich – Philip Kerr warnt in „1984.4“ die Smartphone-Generation vor totalitär angeordneter Verachtung von Senioren
Harald Tews

Fast scheint es, als gehe ein Fluch von „1984“ aus. Für George Orwell war der dystopische Roman sein letztes Werk; Richard Burton hatte seine letzte Filmrolle in einer Verfilmung von „1984“; für den britischen Autor Philip Kerr, der 2018 im Alter von 62 Jahren starb, war seine Jugendversion von „1984“ einer seiner letzten Romane.

Parallel zu einer Neuübertragung von Orwells „1984“ durch den Übersetzer Karsten Singelmann (siehe auch PAZ vom 19. Februar) ist in der Jugendbuchreihe Rotfuchs im Rowohlt Verlag jetzt Kerrs „1984.4“ posthum auf Deutsch erschienen. Das Buch ist die feministische Generation-Smartphone-Variante von Orwells Klassiker. Heldin ist die 16-jährige Flo­rence, die als „Ruhestands-Vollstreckerin“ alte, vor 1984 geborene Menschen tötet, die sich der staatlich angeordneten Euthanasie widersetzen. Das Sujet ist nicht neu, erinnert es doch stark an den Science-Fiction-Kinoklassiker „Flucht ins 23. Jahrhundert“ („Logan’s Run“) von 1976, in dem „Sandmänner“ all jene Dissidenten eliminieren, die sich gegen den Ablauf ihrer „Lebensuhr“ wehren. 

Ähnlich wie ein „Sandmann“ im Film wechselt auch Florence im Buch die Seiten, indem sie dem totalitären Terror langsam abgeschwört. Darin unterscheidet sie sich von Winston Smith in Orwells Romanvorlage, der als „Gedankenverbrecher“ startet und nach einer Umerziehung zum fanatischen Musterbürger wird. In Kerrs „1984.4“ taucht er wieder auf: Er ist jetzt der Große Bruder, der als digitale Ikone alles beobachtet.

Überhaupt verwendet Kerr viele Versatzstücke von Orwells „1984“. Aus den alten Teleschirmen sind jetzt moderne „Wristpads“, Armbänder, geworden, die alle Gespräche aufzeichnen; statt dem propagandistischen „Zweiminuten-Hass“ bei Orwell gibt es das politisch korrekte „Zweiminuten-Lachen“, mit dem das Volk medial bei Laune gehalten wird; selbst Orwell taucht als Romanfigur auf: Ihre Liebe zu einem Jungen namens Eric Blair, so der eigentliche Name Orwells, weckt den Widerstandsgeist bei Florence.

Adäquat zum Orwellschen Neusprech hat Kerr einen Jugendsprech erfunden. „Töten“ heißt hier „docken“, und „Rolex“ meint etwas „Unechtes“. Um Verständnisproblemen abzuhelfen sind der verwendete Jargon und die Abkürzungen im Anhang erklärt. Im Nachwort erinnert Christiane Steen an den verstorbenen Preußenkenner Kerr, der mit historischen Detektivromanen auch über die NS-Zeit bekannt wurde. Derart geschichtsbewusst gelang ihm mit „1984.4“ eine beklemmende Warnung vor totalitären Regimen.

Philip Kerr: „1984.4“, Rowohlt Verlag, Hamburg 2021, gebunden, 320 Seiten, 16 Euro