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12.03.21 / Architektur / Fährt kein Zug nach Nirgendwo / Auf dem Abstellgleis – In einem Pyrenäenkaff befindet sich eines der längsten Bahnhofsgebäude Europas, doch kaum einer nutzt es

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 10-21 vom 12. März 2021

Architektur
Fährt kein Zug nach Nirgendwo
Auf dem Abstellgleis – In einem Pyrenäenkaff befindet sich eines der längsten Bahnhofsgebäude Europas, doch kaum einer nutzt es
Stephanie Sieckmann

Inmitten der Pyrenäen liegt ein Bahnhof mit den Ausmaßen eines Riesenpalastes. Der Bahnhof von Canfranc ist ein in Vergessenheit geratenes Ruinen-Monstrum, das sich bei Freunden der „Lost Places“ (vergessenen Orte) großer Beliebtheit erfreut. Führungen durch die leeren Bahnhofshallen bescherten dem beschaulichen Dorf mit rund 700 Einwohnern in Vor-Corona-Zeiten nennenswerte Touristenzahlen. Eine Restaurierung soll bis 2025 für eine Wiederbelebung der Bahnhofsruine und der stillgelegten Gleise sorgen. 

Der in der Provinz Aragonien kurz vor der französischen Grenze liegende Prachtbau sprengt sämtliche Maßstäbe. Der Entwurf für das Prestigeobjekt, das 1902 von beiden Ländern geplant und umgesetzt wurde, war opulent. Im engen Flusstal des Rio Aragón sollte auf 1195 Meter Höhe der Bahnhof an der Grenze den Handel und den Tourismus fördern und als Knotenpunkt für den Fernverkehr zwischen Paris und Madrid glänzen. Große Fenster, Pilaster im klassizistischen Stil und Holzarbeiten im Déco-Stil waren stilgebend. Durch die Berge grub man Tunnel, um die Verbindungen an das französische und das spanische Eisenbahnnetz zu schaffen. 

Größter Bahnhof nach Leipzig

Überdachte Bahnsteige von zusammen 1,2 Kilometern und ein Hauptgebäude mit 241 Metern Länge stellten den Mittelpunkt des architektonischen Prachtstücks dar. Für die technisch sehr verschiedenen Bahnlinien gab es auf beiden Seiten des Bahnhofs entsprechende Anschlüsse und Wartungshallen. Französische Züge kamen aus Pau auf normalspurigen Gleisen bis zum Bahnhof Canfranc. 

Auf der anderen Bahnhofsseite lag die von Saragossa kommende Breitspurbahn. Hüben gab es einen Ringlokschuppen, drüben eine E-Lok-Halle für die französischen Züge. Insgesamt wurden auf der schmalen Anlage 27 Kilometer Gleise angelegt. Als Umsteigebahnhof entworfen, waren in den Außentrakten des Gebäudes die Zollstelle, Polizeistation, Post und ein internationales Hotel untergebracht. 

1918 konnte der Eisenbahntunnel fertiggestellt werden, der unter der Grenze hindurchführte. Zehn Jahre später konnten König Alfons XIII. von Spanien und der französische Staatspräsident Gaston Doumergue der Eröffnungszeremonie beiwohnen. Der kleine neugeschaffene Ort Canfranc Estación mit seinen rund 400 Einwohnern, unweit des talabwärts gelegenen alten Dorfes Canfranc, hatte nach Leipzig den zweitgrößten Bahnhof Europas und nannte ihn stolz Estación Internacional de Canfranc. 

Doch der Plan der Gründungsväter ging nicht auf. Die Strecke wurde nicht so gut angenommen, wie erhofft. Was nicht zuletzt an der enormen Steigung von bis zu 43 Prozent auf französischer Seite lag. Die Transporte waren zu langsam, um konkurrenzfähig zu sein.

Zweiter Weltkrieg sorgte fürs Ende

Dann begann der spanische Bürgerkrieg. Und mit ihm kam der Zugverkehr zwischen Spanien und Frankreich zeitweise vollständig zum Erliegen. Der Zweite Weltkrieg besiegelte dann das Ende. Da die Beziehungen zwischen Frankreich und Spanien angespannt waren, wurde  das Projekt unbrauchbar. Schmuggel war in dieser Zeit der Hauptgrund, den Bahnhof Canfranc zu frequentieren. Gold wurde nach Spanien geschmuggelt, Wolfram, das für den Bau von Kriegsgerät notwendig war, mit dem Gold bezahlt und dann zurückgeschmuggelt. Diktator Franco ließ zwischen 1944 und 1948 einige Tunnel sperren, um den Schmuggel von Waffen zu unterbinden, die seine Gegner stärken sollten. Die Line P entstand – ein Verteidigungskomplex, der den immens großen Bahnhof schützen sollte.

Mit dem Ende des Zweiten Weltkriegs entspannte sich die Situation zwischen Frankreich und Spanien, der Zugverkehr auf der Strecke Pau–Saragossa wurde wieder aufgenommen. Doch 1970 sorgte ein Brückeneinsturz auf französischer Seite dafür, dass der Bahnverkehr auf der Strecke Pau–Saragossa vollständig und endgültig zum Erliegen kam. Derzeit dient die Station einzig als Kopfbahnhof je zweier täglich verkehrendender Regionalzüge von und nach Saragossa.

Der überdimensionierte Geisterbahnhof von Canfranc mit seinen 356 Fenstern und 156 Türen verfiel und sank in einen Dornröschenschlaf, bis einige Liebhaber des Morbiden die Schönheit des Verfalls entdeckten und auf der Suche nach lohnenden Objekten auch nach Spanien kamen. „Lost Places“-Fotografen haben diesen einst so prunkvoll geplanten Ort wieder ans Tageslicht und ins Bewusstsein der Spanier befördert. 

2013 erinnerte sich die Provinz Aragón an ihr ehemaliges Vorzeigebauwerk, erwarb das Gelände und präsentierte Pläne, die den Bahnhof wieder als Schmuckstück erstrahlen lassen sollen. Zuletzt besuchten vorwiegend Spanier Canfranc, um bei zwei geführten Touren täglich die Bahnhofsruine zu erkunden. Allein darf kein Besucher den Absperrzaun passieren. Eine Anmeldung für die Touren war notwendig, denn die Nachfrage war groß und wird nach dem Lockdown sicher steigen. 

Größenwahnsinnige Architektur

Die Regierung von Aragonien setzt auf die Renovierung von Canfranc. Die Haupthalle des Bahnhofs ist inzwischen fertiggestellt. Ein Hotel soll Touristen ein reizvolles Dach über dem Kopf bieten. Auf einem der ehemaligen Rangiergleise soll ein neues Bahnhofsgebäude entstehen und der Zugverkehr wieder aufgenommen werden – natürlich in beide Richtungen.  

Der Bahnhof Canfranc, ein größenwahnsinniges Beispiel für die Industriearchitektur der damaligen Zeit, aus Glas, Beton und Eisen erschaffen und mit überraschender Eleganz ausgestattet, soll Touristenmagnet werden. Skifahrer machen gerne in der Region Halt, da sich in der Nähe die Wintersportorte Astún und Candanchú befinden. Außerdem liegt Canfranc auf dem aragonesischen Abschnitt der Pilgerroute des Jakobswegs.

Auch von Wanderern wird die Gegend um den Ort zunehmend entdeckt. Der Bau eines Hotels ist daher vielversprechend. Hoffentlich verschätzt man sich diesmal nicht wieder. Denn jetzt könnte Corona oder die nächste Pandemie ein weiteres ehrgeiziges Projekt ins Leere laufen lassen.