29.03.2024

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Folge 14-21 vom 09. April 2021 / Von wegen Aufklärung / Seit Jahren stehen bedeutende Künstler und Werke der europäischen Klassik in der Kritik. Jüngste Fälle zeigen einmal mehr, dass es dabei selten um eine Erweiterung der Sichtweisen geht, sondern um das Rütteln an den Fundamenten unserer Kultur

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 14-21 vom 09. April 2021

Von wegen Aufklärung
Seit Jahren stehen bedeutende Künstler und Werke der europäischen Klassik in der Kritik. Jüngste Fälle zeigen einmal mehr, dass es dabei selten um eine Erweiterung der Sichtweisen geht, sondern um das Rütteln an den Fundamenten unserer Kultur
René Nehring

Dieser Aufschrei hat dann doch überrascht. Als Ende März die britische Tageszeitung „The Telegraph“ berichtete, dass an der renommierten Universität Oxford erstellte Konzeptpapiere erklärten, den Lehrplan für die Ausbildung des musikalischen Nachwuchses „dekolonisieren“ zu wollen, schlugen binnen weniger Stunden die Empörungswellen hoch. In London und New York berichteten Medien ebenso aufgebracht über die irritierenden Pläne wie in Hamburg und Salzburg. 

Konkret schlägt ein Wissenschaftler der Musikfakultät einen geringeren Fokus auf die „euroamerikanische Elite-Musik“ vor, was sich „aus internationalen Demonstrationen der ,Black Lives Matter‘-Bewegung“ ergebe. Künftige Lehrveranstaltungen sollen die „weiße Hegemonie“ in Oxfords Musiklehrplan ansprechen und andere Musikformen stärker repräsentieren. Namentlich wird als mögliche Änderung der Studiengänge die Reduzierung des Fokus auf kanonische klassische Komponisten wie Mozart und Beethoven angeregt, und zwar als Teil einer vorgeschlagenen Abkehr von der „weißen europäischen Musik aus der Sklavenzeit“. Ebenso infrage gestellt wird die westliche Notation, also das graphische Abbilden musikalischer Parameter wie Tonhöhe und -dauer sowie Lautstärke mittels Notenschrift, die sich in den vergangenen Jahrhunderten zur international anerkannten Musiksprache entwickelte und sich dabei durchaus den verschiedenen Kulturräumen der Welt angepasst hat. 

Die Universität selbst zeigte sich erschrocken über das weltweite Echo und ließ über einen Sprecher erklären, dass Behauptungen, die westliche Kunstmusik solle vom Curriculum verschwinden, „komplett inkorrekt“ seien. Viele der vom „Telegraph“ zitierten Sichtweisen seien auf einen einzigen Professor zurückzuführen. Allerdings solle der Lehrplan der Musikfakultät durchaus erweitert sowie nicht-westliche und zeitgenössische Musikformen aus aller Welt stärker im Angebot verankert werden. Genauere Pläne dazu sollen im Sommer vorliegen. 

Teil einer großen Kampagne

Ein Grund zur Beruhigung ist das freilich nicht. Zum einen, weil Oxford die bekannt gewordenen Pläne keinesfalls dementiert, sondern lediglich in ihren Ausmaßen relativiert. Zum anderen, weil der Autor der umstrittenen Ideen direkten Bezug nimmt auf die „Black Lives Matter“-Bewegung – und damit offen erklärt, dass die Ausbildung des musikalischen Nachwuchses den Forderungen einer ideologischen Bewegung folgen solle. Zumal einer Bewegung, die zwar aus Protest gegen rassistische Gewalt gegründet wurde, selbst jedoch im Rahmen von Demonstrationen regelmäßig für Gewalt – etwa gegen weiße Polizisten – sorgt. 

Hinzu kommt, dass die Angriffe auf die Klassik, ihre Schöpfer und Inhalte, keinesfalls Einzelfälle sind. Seit Jahren schon arbeiten sich Kritiker an Mozart-Figuren wie dem Monostatos in der „Zauberflöte“ oder dem Osmin in der „Entführung aus dem Serail“ ab. Für das Portal „blackcentraleurope.com“ (also „schwarzes Mitteleuropa“) etwa stellt die „Zauberflöte“ „eine Mischung aus rassistischen Stereotypen rund um die Schwärze im späten achtzehnten Jahrhundert dar“. Und der linksliberale britische „Guardian“ kritisierte schon vor Jahren, dass die „Zauberflöte“ zwar „einige von Mozarts größten Musikstücken“ enthalte und von vielen deshalb als „eine der großen Verkörperungen der Werte der Aufklärung und folglich als eine der großen humanitären Aussagen der westlichen Kultur“ bezeichnet würde – doch seien die Werte der Aufklärung des 18. Jahrhunderts, so fortschrittlich sie auch sein mögen, eben „weiß, männlich, heterosexuell und überwiegend bürgerlich“. 

Parallel zur jüngsten Aufregung um Mozart und Beethoven sorgte in den Niederlanden ein anderer Klassiker für Aufregung: Wie die „Tagespost“ unter Bezugnahme auf einen Artikel des französischen „Figaro“ berichtete, wurde von einem niederländischen Verlag in einer Neuausgabe der „Göttlichen Komödie“ von Dante Alighieri in der „Hölle“ der Verweis auf den Propheten Mohammed gestrichen, um Muslime „nicht unnötig zu verletzen“. Dies nicht etwa auf Druck muslimischer Verbände hin, sondern in völliger Selbstzensur. Damit, so der „Figaro“, werde ein literarischer „Leitstern der abendländischen Kultur“ schlechthin angegriffen. Es gehe dabei um eine „selektive Neuschreibung der Vergangenheit à la Orwell“, beziehungsweise um einen weiteren Schritt zur Durchsetzung der „Cancel Culture“, die inzwischen zahlreiche Filme und Bücher, aber auch zunehmend schulische und universitäre Lehrpläne erfasst hat.

Angriff auf die Wurzeln Europas 

Was die Fälle in Oxford und in den Niederlanden vereint, ist die grundlegende Infragestellung wichtiger Güter der europäischen Kultur. Hier das Werk zweier Komponisten, die zu den größten Schöpfern der Musikgeschichte gehören, dort eine Dichtung, mit der nicht nur die italienische Schriftsprache begründet wurde, sondern die gleichsam eine Verbindung zwischen antikem Denken und mittelalterlicher Gegenwart herstellt. 

Zweifellos ist es legitim, die Aktualität klassischer Werke zu hinterfragen. Allein schon die unüberschaubare Vielzahl zwingt jede Generation aufs Neue zu überlegen, welche Dramen, Lieder, Opern und Sinfonien in der jeweiligen Gegenwart noch relevant sind. Und in einer zunehmend globaler ausgerichteten Welt ist es durchaus geboten, die geistigen Horizonte zu erweitern und etwa zu fragen, welche Werke auf anderen Kontinenten überliefert sind. 

Nur: Warum ist ein solches Bestreben nicht positiv ausgerichtet? Warum tritt – um beim aktuellen Fall in Oxford zu bleiben – der Verfasser der Konzeptpapiere nicht vor die Fachwelt und präsentiert seine etwa bei den indigenen Völkern in Nordamerika („Indianer“ darf man ja nicht mehr sagen) oder in Afrika entdeckten musikalischen Funde? Warum sucht er nicht ein Orchester und ein Tonstudio und spielt Werke von anderen Kontinenten nicht einfach ein – und stellt diese einer offenen Diskussion? Und warum stellen im Falle Dantes die Verfechter der „Cancel Culture“ der Figur Mohammeds nicht Darstellungen des Abendlandes in literarischen Werken aus dem Morgenland gegenüber? Hat man Angst davor, dass sich die geschmähte europäische Kultur – zumindest in den genannten Fällen – als das erweisen könnte, was sie tatsächlich ist: nämlich als unerreichte Höhepunkte der weltweiten Kulturgeschichte? 

Keine „weiße“ Kultur

Zu hinterfragen sind die Attacken auf Dante, Mozart und Beethoven auch aus einem anderen Grund. Paradoxerweise schreiben die Kritiker „weißer Vorherrschaft“ in der Geschichte der europäischen Kultur etwas zu, was diese selbst nie sein wollte: nämlich eine Kultur weißer Männer. Natürlich sind die Genannten – ebenso wie all die anderen Dichter, Denker und Komponisten – genau das: weiße Männer. Gleichwohl ist der europäische Kulturraum nicht ohne Vorgeschichte entstanden, fußt die klassische Kultur Europas nicht nur auf dem antiken Erbe des alten Roms und der griechischen Stadtstaaten. So entstand das Christentum bekanntermaßen in Vorderasien. Die Hochkulturen davor wurden geprägt durch Karthager, Ägypter, Syrer, Sumerer, Araber oder Perser. 

Vor rund fünf Jahren beschrieb der aus einer kroatischen Fürstenfamilie stammende britische Historiker Peter Frankopan in seinem Werk „The Silk Roads“ (der deutsche Titel lautete „Licht aus dem Osten“) die vielfältigen Prägungen Europas durch den Orient. Er erzählte von einem großen Reichtum an Gütern, Kultur und Wissen, der das Alte Europa lange sehnsüchtig nach Osten blicken ließ. Er erzählte von edlen Waren wie Seide oder Porzellan sowie von Techniken wie der Papierherstellung, die über die Seidenstraße im Westen Verbreitung fanden. Und er erzählte von islamischen Gelehrten, die das antike Kulturerbe pflegten, lange bevor Europa die Renaissance erlebte. 

Die öst-westlichen Begegnungen waren zu kaum einer Zeit frei von Konflikten und Kriegen. Aber sie haben immer zu einer Bereicherung aller Seiten geführt. Allein der Blick in die Gewürzregale europäischer Küchen erzählt von der großen Geschichte des jahrhundertelangen Austauschs zwischen den verschiedensten Kulturen. Ebenso die Sprachen, die allesamt durchsetzt sind von Wörtern aus anderen Regionen der Welt. Durchgesetzt hat sich fast immer das bessere Produkt, die höherwertigere Technik, die elegantere Lebensform – oder die wohlklingendere Musik. 

Verdrängung statt Horizonterweiterung

Dass die aktuellen Kritiker der Klassik einen anderen Weg gehen als etwa Peter Frankopan und statt einer Erweiterung der Perspektiven durch Begriffe wie „weiße Vorherrschaft“ oder „koloniale Kunst“ auf eine Diskreditierung der Klassik setzen, zeigt nicht nur, dass ihnen inhaltlich die Argumente fehlen. Vielmehr offenbart es, dass es ihnen um etwas ganz anderes geht als darum, der Kultur vermeintlich unterdrückter Ethnien zu mehr Geltung zu verschaffen. 

Ihnen geht es – auch wenn sie dies bestreiten mögen – vielmehr darum, mit der Klassik zentrale Wurzeln der europäischen Kultur zu diskreditieren und diese damit insgesamt infrage zu stellen. Oder, um es in den Worten des Informatikzeitalters zu sagen, es geht darum, die intellektuelle Festplatte zu löschen, um sie dann mit anderen Inhalten neu bespielen können. 

Wohin ein solch absolutes Begehren führen kann, lehrt ebenfalls bereits das Zeitalter der Klassik. Als Ludwig van Beethoven 1817 von dem Dichter Christoph Kuffner gefragt wurde, welche seiner Sinfonien er für die bedeutendste halte, antwortete der Komponist: „Die Eroica.“ Es ist jenes Werk, das Beethoven Jahre zuvor als glühender Anhänger der Ideale der Französischen Revolution dem jungen Napoleon gewidmet hatte – und dessen Widmung er zerriss, als er von der Kaiserkrönung Bonapartes erfuhr. Als das Gespräch stattfand, hatte der Kaiser der Franzosen die Lebenswelt der europäischen Klassik längst irreversibel zerstört. 

Je größer der Anspruch zur Aufklärung, auch das lehrt die Geschichte von Politik und Kultur, um so gnadenloser die Austreibung der alten, angeblich so ungerechten Welt – und um so schrecklicher die Mittel, mit denen diese Austreibung vorgenommen wird. Vor diesem Hintergrund ist es keineswegs nur eine intellektuelle Spielerei, wenn die vermeintlichen Aufklärer von heute die europäische Klassik attackieren.