20.04.2024

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Folge 16-21 vom 23. April 2021 / Digitalisierung / Wissenschaftlicher Beirat stellt Wirtschaftsminister bloß / Gutachten zeigt: Von „Wir werden die anwenderfreundlichste Verwaltung Europas haben – bis 2021“, so Altmaier noch 2017, kann keine Rede sein

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 16-21 vom 23. April 2021

Digitalisierung
Wissenschaftlicher Beirat stellt Wirtschaftsminister bloß
Gutachten zeigt: Von „Wir werden die anwenderfreundlichste Verwaltung Europas haben – bis 2021“, so Altmaier noch 2017, kann keine Rede sein
Peter Entinger

Dass Deutschland in Sachen Digitalisierung einen erheblichen Nachholbedarf hat, ist kein Geheimnis. Und so gab es die Hoffnung, das Land könne die Corona-Pandemie nutzen, um den Rückstand aufzuholen. Doch ein vom Bundeswirtschaftsministerium in Auftrag gegebenes Gutachten kommt zu einem ernüchternden Ergebnis. „Deutschland ist sowohl beim Ausbau der digitalen Infrastruktur als auch beim Einsatz digitaler Technologien und Dienstleistungen hinter viele andere OECD-Staaten zurückgefallen“, heißt es in dem Papier. 

In der Studie mit dem Titel „Digitalisierung in Deutschland – Lehren aus der Coronakrise“, die in der vergangenen Woche vom Wissenschaftlichen Beirat des Ministeriums veröffentlicht wurde, werden die Schwächen und der Nachholbedarf in Schulen und Verwaltung dargelegt. 

Kurz vor der Bundestagswahl 2017 hatte der heutige Bundeswirtschaftsminister Peter Altmaier (CDU) ein Versprechen abgegeben: „Wir werden die anwenderfreundlichste Verwaltung Europas haben – bis 2021.“ Der Staat könne nicht länger Geburtsurkunden ausstellen „wie zu Zeiten von Kaiser Wilhelm“. Er sei bereit, zwölf Flaschen guten Grauburgunder darauf zu verwetten, dass dies klappe. 

Peter Altmaiers Versprechen

Bei der Lektüre der Studie aus dem eigenen Hause dürfte dem Saarländer wohl klargeworden sein, dass er diese Wette verloren hat beziehungsweise hätte. Es habe zwar an manchen Stellen, wie der Umstellung auf das Homeoffice, Fortschritte gegeben. „In anderen Bereichen, so im Schul- und Gesundheitswesen, gelang dies nur mühsam oder so gut wie gar nicht“, erklärte Klaus Schmidt, Vorsitzender des Wissenschaftlichen Beirats. 

Zudem hätten die Prozesse auch schon lange vor der Pandemie geschehen können. „Wie dieses Gutachten an mehreren Beispielen zeigt, beruht der Rückstand Deutschlands bei der Digitalisierung oftmals weniger auf fehlenden finanziellen Mitteln oder Marktversagen, sondern auf verschiedenen Formen von Organisationsversagen“, heißt es in der Studie. 

Es fehle an klaren Zuweisungen „von Zuständigkeiten und Verantwortlichkeiten“. So sei beim Digitalpakt Schule bislang nur ein Bruchteil der zur Verfügung stehenden Bundesmittel bei den Schulen angekommen. Im Schul- und Gesundheitssystem habe es generell kaum Fortschritte gegeben. Die Rede ist auch von einem „generellen Organversagen“. Deutschland leiste sich „in der öffentlichen Verwaltung Strukturen, Prozesse und Denkweisen, die teilweise archaisch anmuten“, lautet das ernüchternde Fazit.

Die Experten warnten zudem davor, die Pandemie einfach auszusitzen und dann zu alten Mustern zurückzukehren. „Die in der Krise getroffenen, oft befristeten Entscheidungen zugunsten einer Flexibilisierung von Abläufen sollten von der Politik, aber auch von Verwaltungs- und Behördenleitungen in den kommenden Monaten auf den Prüfstand gestellt werden“, erklärte Studien-Mitautor Dietmar Harhoff, Direktor am Münchner Max-Planck-Institut für Innovation und Wettbewerb. Grundsätzlich herrsche in vielen Verwaltungen eine regelrechte Veränderungsaversion. Dies betreffe nicht nur den Schul- und Gesundheitsbereich, sondern auch beispielsweise Finanzverwaltungen.

„Die Verhaltensökonomie erklärt mangelnde Veränderungsbereitschaft mit einem sogenannten Status quo bias, also einer Präferenz gegen Veränderungen, wenn diese in einigen Dimensionen mit Verlusten verbunden sind, selbst wenn die Gewinne in anderen Dimensionen überwiegen“, schreiben die Autoren.

Und was sagt der Wirtschaftsminister dazu? Altmaier hat den Blick nun Richtung Osten gerichtet. Dort gilt das kleine Estland als Digitalisierungsweltmeister. Die Digitalisierung sei ein Thema von absoluter Priorität: „Wenn das hier nicht so richtig klappt, wäre ich auch bereit, das beste Digital-Team aus Estland einzufliegen, um hier schneller voranzukommen.“ 

Das baltische Land hat vor Jahren schon sämtliche Dienstleistungen der öffentlichen Hand und viele Dienstleistungen von Unternehmen ins Internet verlegt. Deshalb ist auch manchmal von „E-Estonia“ die Rede. In Estland können inzwischen mehr als 3000 Behördengänge digital abgewickelt werden. Allerdings hat das Land relativ großzügige Datenschutzbestimmungen. 

Kritik am Datenschutz

Mit Blick auf Estland verweist denn auch der Wissenschaftliche Rat des Wirtschaftsministeriums auf rechtliche Hürden. „Juristische und bürokratische Hemmnisse spielen eine wichtige Rolle im Prozess der Digitalisierung. Der Datenschutz wird in Deutschland oft als ein Wert angesehen, der in der Abwägung mit anderen Rechtsgütern absolute Priorität genießt“, heißt es. Das habe die Nutzung digitaler Möglichkeiten während der Corona-Krise stark eingeschränkt, wie die Corona-Warn-App und die sich immer weiter verzögernde elektronische Patientenakte gezeigt hätten. 

Der Bund, so betont Altmaier, habe die Probleme erkannt. Bis 2022 wollen Bund, Länder und Kommunen rund 600 Dienste der Verwaltungen – von der Ausweis- und Führerscheinausstellung bis hin zum Elterngeld – nach einheitlichen Standards online anbieten. Die digitale Plattform-Ökonomie „führt dazu, dass für Konsumenten und Bürger mehr Transparenz, mehr Wettbewerb und damit geringere Preise möglich werden“, erklärte Minister Altmaier. 

Laut dem Wissenschaftlichen Beirat bedarf es einer Bewusstseinsänderung in den Verwaltungen. „In Abläufe der öffentlichen Verwaltung müssen neuartige Managementansätze (Teamarbeit, agiles Management) schneller als bisher integriert werden, wodurch die Verwaltung flexibler auf besonders dynamische Bereiche des Wirtschaftslebens reagieren und innovative Technologien und Prozesse früher als bisher einsetzen kann“, heißt es da.