20.04.2024

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Folge 16-21 vom 23. April 2021 / Wilhelm Canaris / Ein Blick auf die Zeit vor 1935 / Mit Heiko Suhr versucht erstmals ein Biograph, den schillernden militärischen Abwehrchef des Dritten Reiches mit dessen vorangegangener Entwicklung in Kaiser- und Weimarer Zeit zu erklären

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 16-21 vom 23. April 2021

Wilhelm Canaris
Ein Blick auf die Zeit vor 1935
Mit Heiko Suhr versucht erstmals ein Biograph, den schillernden militärischen Abwehrchef des Dritten Reiches mit dessen vorangegangener Entwicklung in Kaiser- und Weimarer Zeit zu erklären
Wolfgang Kaufmann

Die historische Rolle von Admiral Wilhelm Canaris ist nach wie vor ein Gegenstand kon­troverser Diskussionen. War der Chef des Amtes Ausland/Abwehr beim Oberkommando der Wehrmacht, der schließlich am 9. April 1945 nach einem SS-Standgerichtsverfahren im KZ Flossenbürg gehängt wurde, eher ein überzeugter Gegner des nationalsozialistischen Regimes oder ein intriganter Mittäter gewesen? Und hat Canaris schon zum Zeitpunkt seiner offiziellen Ernennung zum Leiter des militärischen Nachrichtendienstes am 26. April 1935 in heimlicher Opposition zum Dritten Reich gestanden oder nicht? 

Wer war Canaris im Jahre 1905? 

Wer diese Fragen beantworten will, muss den Werdegang des Marineoffiziers in der Zeit vor 1935 im Detail rekonstruieren. Dies wurde bislang aber weitestgehend versäumt, obwohl bereits zehn große Monographien über Canaris erschienen sind – verfasst von Karl Heinz Abshagen (1949), Ian Colvin (1955), Heinrich Fraenkel und Roger Manvell (1969), André Brissaud (1970), Heinz Höhne (1976), Léon Papeleux (1977), Michael Müller (2006), Richard Bassett (2007), German Bravo Valdivieso (2007) und Eric Kerjean (2012). Das Manko all dieser Werke liegt im Fehlen von fundierten quellengestützten Ausführungen über Canaris’ Persönlichkeit sowie in der Konzentration auf sein Wirken als Abwehrchef.

Letzteres lässt sich jedoch nur aus der biographischen Vorgeschichte heraus verstehen. Insofern ist es von größter Wichtigkeit, dass der Historiker und Archivar Heiko Suhr jetzt mit seiner 550 Seiten umfassenden Dissertation „Wilhelm Canaris. Lehrjahre eines Geheimdienstchefs (1905–1934)“ an die Öffentlichkeit getreten ist.

Suhr hat in 78 Archiven in zehn Staaten auf vier Kontinenten recherchiert, rund hundert Interviews mit Zeitzeugen und Nachfahren von Canaris geführt sowie etwa 130 bislang unbekannte persönliche Briefe seines Protagonisten ausgewertet. Letztere bestanden dabei aus einem Konvolut kleiner Fragmente, die computergestützt zusammengesetzt und lesbar gemacht wurden. Mit Hilfe all dieser Quellen versuchte Suhr, ein konsistentes Persönlichkeitsprofil des späteren Abwehrchefs zu erstellen. 

Dabei lauteten seine drei großen Leitfragen: Wer war Canaris im Jahre 1905? Wer war Canaris im Jahre 1918? Und wer war Canaris im Jahre 1934?

Um Antworten hierauf zu finden, musste Suhr Canaris’ Karriere rekonstruieren: Ausbildung zum Seeoffizier (1905–1908), Dienst auf Torpedobooten und den Kleinen Kreuzern „Bremen“ und „Dresden“ (1908–1914), Kreuzerkrieg mit der „Dresden“ bis zur Versenkung des Schiffes, anschließend Internierung auf der chilenischen Insel Quiriquina sowie Flucht nach Deutschland (1914/15), nachrichtendienstliche Tätigkeit in Spanien und erneute Flucht in die Heimat (1915/16), U-Boot-Kommandant im Mittelmeer (1916–1918), Dienst bei der 

U-Boots-Inspektion (1918/19), im Reichswehrministerium (1919/20) und bei der Marinestation der Ostsee (1920–1923), Erster Offizier auf dem Schulschiff „Berlin“ (1923/24), Japan-Reise (1924), Angehöriger der Flottenabteilung der Marineleitung (1924–1928), Erster Offizier auf dem Linienschiff „Schlesien“ (1928–1930), Chef des Stabes der Marinestation der Nordsee (1930–1932), Kommandant der „Schlesien“ (1932–1934) und Festungskommandant in Swinemünde (1934).

Wer war Canaris im Jahre 1918? 

Für Suhr war Canaris 1905 der Prototyp eines Seeoffiziersanwärters aus großbürgerlichem Hause mit zeittypischen Idealen und Denkmustern sowie einigen individuellen Talenten wie besonderer Sprachbegabung. Bis 1918 habe er sich dann zu einem weltoffenen, ja kosmopolitischen, weitblickenden und vergleichsweise liberalen Menschen mit erheblichem Selbstbewusstsein und großer Vorliebe für ungewöhnliche Aufgaben jenseits der üblichen Routine entwickelt. Hierfür macht Suhr vor allem Canaris’ Kriegsabenteuer verantwortlich. Zum Zeitpunkt des Zusammenbruchs des Kaiserreichs sei der Marineoffizier nicht sonderlich radikalisiert gewesen, sondern lediglich ein Verehrer starker Führerfiguren. Zum Gegner diagnostiziert Suhr bei Canaris ein ritterliches Verhältnis, das 1918 bereits anachronistisch gewesen sei.

 Nach einer schnellen Überwindung der revolutionsbedingten Orientierungslosigkeit habe Canaris sich in die Rolle des loyalen Angehörigen der Reichsmarine der Weimarer Republik mit professioneller Berufsauffassung begeben. Parallel dazu habe er eine antikommunistische Haltung eingenommen und weiterhin zu all jenen Führungspersönlichkeiten aufgeschaut, die ihm als Garant stabiler Verhältnisse erschienen. Mit Letzterem erklärt Suhr die anfängliche Bereitschaft, Adolf Hitler zu folgen, die eigentlich Canaris’ politischem Instinkt zuwidergelaufen sei. Ansonsten sei der Seeoffizier seinem früheren Wertesystem treu geblieben.

Und wer war Canaris im Jahre 1934?

Die Vorgesetzten von Canaris schrieben in ihren Dienstzeugnissen vor 1935 von einer „etwas übersteigerten Empfindsamkeit“ und „sehr kritischen Einstellung zu allen Dingen“, gepaart mit „diplomatischem Geschick“, „nie erlahmender Initiative“ und „geistiger Regsamkeit“. Und das prädestinierte ihn ganz offensichtlich für Herausforderungen der besonderen Art, denen er sich voller Enthusiasmus stellte – so wie dann auch Anfang 1935 bei der Übernahme der Amtsgeschäfte des Chefs der militärischen Abwehr.

Für Suhr rückte Canaris also keineswegs schon mit Widerstandsgedanken im Hinterkopf an die Spitze des Geheimdienstes. Andererseits habe die Marinelaufbahn aber Auswirkungen auf sein späteres Handeln gehabt. Ansonsten bewertet Suhr Canaris als Persönlichkeit mit höchst individuellen Zügen, die sich nur äußerst schwer kategorisieren lasse. Und damit liegt er wohl richtig, wie eine der von ihm zitierten Anekdoten über den späteren Abwehrchef zeigt. Die schildert, wie der damalige Kapitän zur See Canaris den Balkon von Kapitänleutnant Jakob Förschner von der „Schlesien“ schrubbte. Anlass für diese ungewöhnliche Hausfrauentätigkeit war die Bettlägerigkeit der Ehegattin des rangniederen Offiziers gewesen.

Heiko Suhr: „Wilhelm Canaris. Lehrjahre eines Geheimdienstchefs (1905–1934)“ Wachholtz, Kiel/Hamburg 2020.