Gustaf Kossinna zählte zu den bekanntesten und zugleich auch umstrittensten Prähistorikern seiner Zeit. Der Sohn eines Gymnasiallehrers, der am 28. September 1858 in Tilsit geboren wurde, erlebte schon als Kind die ethnisch bedingten Spannungen im preußisch-litauischen Grenzgebiet und zeigte dann später ein großes Interesse an deutscher Stammeskunde sowie der germanischen Vorzeit, als er in Göttingen, Leipzig, Berlin und Straßburg studierte. Dabei wandte sich Kossinna zunächst den Sprachwissenschaften zu, bevor er 1887 begann, auch die materiellen Hinterlassenschaften vergangener Kulturen in den Fokus zu nehmen. In diesem Zusammenhang entwickelte der Ostpreuße eigenständige methodische Ansätze, was ihm 1902 eine außerordentliche Professur für deutsche Archäologie an der Friedrich-Wilhelms-Universität zu Berlin eintrug.
Kossinnas wichtigster Lehrsatz, der sich unter anderem in seinem Standardwerk „Die Herkunft der Germanen. Zur Methode der Siedlungsarchäologie“ von 1911 findet, lautete: „Scharf umgrenzte Kulturprovinzen decken sich zu allen Zeiten mit ganz bestimmten Völkern oder Völkerstämmen.“ Deshalb versuchte er auch, einen deutschen Kulturbegriff zu definieren, um dann auf dessen Grundlage in der prähistorischen, also schriftlosen Vergangenheit nach den Ursprüngen alles Deutschen beziehungsweise auch Germanischen zu suchen. Gleichzeitig war Kossinna bestrebt, „die Erhellung uralter, dunkler Zeiten durch Rückschlüsse aus der klaren Gegenwart oder aus zwar noch alten, jedoch durch reichliche schriftliche Überlieferung ausgezeichneten Epochen“ zu bewerkstelligen. Oder anders ausgedrückt: Er wollte bei der ethnischen Einordnung prähistorischer Funde sowohl archäologische als auch klassische geschichtswissenschaftliche Techniken anwenden.
Allerdings wurde beizeiten Kritik an Kossinnas Vorgehen laut, die zum Teil angebracht, zum Teil aber auch reichlich überzogen war. Sicher fehlte es an hinreichend präzisen Definitionen – so zum Beispiel der zentralen Begriffe „Kulturprovinz“ und „Volk“ beziehungsweise „Völkerstamm“ – und manchmal hinkten auch die archäologischen Beispiele. Ebenso lag Kossinna mit seiner strikten Verneinung der Möglichkeit von Kulturvermischungen und der manchmal doch zu gutgläubigen Heranziehung schriftlicher Quellen falsch. Andererseits schütteten seine damaligen Gegner das Kind aber mit dem Bade aus, als sie gegen die Vermischung von Archäologie, Sprachwissenschaften und Anthropologie wetterten. Gerade diese interdisziplinäre Herangehensweise führte später zu den wichtigsten neuen Erkenntnissen über die schriftlose Frühzeit der Menschheit. Noch unsinniger sind freilich die ahistorischen oder gar denunziatorischen Bewertungen mancher „Experten“ von heute, denen zufolge Kossinna ein „Wegbereiter der nationalsozialistischen Ideologie“, „Rassist“ und Gegner der Gleichstellung der Frau gewesen sei. Natürlich war die Germanentümelei ein Teil der NS-Ideologie – das beruhte aber mit Sicherheit nicht auf der systematischen Rezeption der fachspezischen Schriften Kossinnas.
Konkurrierte mit Carl Schuchhardt
Dahingegen kann Kossinna zu Recht vorgeworfen werden, dass er ab 1908 systematisch auf die Spaltung der deutschen Vorgeschichtsforschung hinarbeitete, weil sein größter Konkurrent Carl Schuchhardt und nicht er selbst zum Direktor der Vorgeschichtlichen Abteilung der Königlichen Museen in der preußischen Hauptstadt ernannt worden war. Während Schuchhardt seitdem die „Prähistorische Zeitschrift“ der Berliner Gesellschaft für Anthropologie, Ethnologie und Urgeschichte herausgab, konterte Kossinna 1909 mit der Gründung der Deutschen Gesellschaft für Vorgeschichte und einem eigenen Periodikum namens „Mannus. Zeitschrift für Vorgeschichte“. In beiden Blättern tobten verbissene Diskussionen über Sinn oder Unsinn der ethnischen Deutung von archäologischen Funden, wobei der Konflikt 1913 eskalierte, nachdem Kossinna Schuchhardt bei der ersten Veröffentlichung über den neu gefundenen Eberswalder Goldschatz in unkollegialer Weise ausmanövriert und seinen Text zudem noch mit beleidigenden Äußerungen über die angebliche Inkompetenz des Konkurrenten gespickt hatte. Kurz darauf kam der Streit dann aber durch den Ersten Weltkrieg zum Erliegen.
In der Zeit danach schaltete sich der Ostpreuße in die Diskussion um das künftige Schicksal der deutschen Ostgebiete ein und veröffentlichte in diesem Zusammenhang während der Verhandlungen zum Diktat von Versailles die beiden politischen Kampfschriften „Die deutsche Ostmark, ein Heimatboden der Germanen“ und „Das Weichselland. Ein uralter Heimatboden der Germanen“. Daraus resultierte nun auch der abrupte Bruch mit den polnischen Vorgeschichtsforschern um seinen früheren Schüler Jozef Kostrzewski, die ihre Disziplin bald genau wie Kossinna zur unverzichtbaren „nationalen Wissenschaft“ erhoben.
Anschließend publizierte der Prähistoriker dann noch „Die Indogermanen. Ein Abriss“ (1921), „Ursprung und Verbreitung der Germanen in vor- und frühgeschichtlicher Zeit“ (1928) und „Germanische Kultur im 1. Jahrtausend nach Christus“ (1932). Das letztere große Werk erschien allerdings erst nach seinem Tod, denn Gustaf Kossinnas Lebensweg endete bereits am 20. Dezember 1931 in Berlin.