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Folge 22-21 vom 04. Juni 2021 / Weißrussland / Die Opposition setzt auf Weiß-Rot-Weiß / Jugend knüpft an Belarus der Zwischenkriegszeit an – Lukaschenko verteidigt Regime nach Sowjettradition

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 22-21 vom 04. Juni 2021

Weißrussland
Die Opposition setzt auf Weiß-Rot-Weiß
Jugend knüpft an Belarus der Zwischenkriegszeit an – Lukaschenko verteidigt Regime nach Sowjettradition
Manuela Rosenthal-Kappi

Der 26-jährige Igor Porunkewitsch aus Postawy im Gebiet Witebsk lebt im litauischen Exil. Im Interview mit einem litauischen Internetportal schildert der Inhaber einer Bar im Stadtzentrum die Gründe für seine Flucht. Als Unterstützer der oppositionellen Swetlana Tichanows-kaja hatte er im vergangenen Jahr in seiner Bar einen Spendenkorb für die Opfer staatlicher Gewalt während der Protestaktionen gegen die Wahlfälschung der Regierung aufgestellt. 

Porunkewitschs Interesse für Politik erwachte noch während seiner Schulzeit. 2010 beteiligte er sich erstmals an Protestaktionen gegen Staatspräsident Alexander Lukaschenko. Als Folge der Unterstützung der Opposition im Wahljahr 2020 drohte ihm ein Strafverfahren. Als die Drohungen der Sicherheitsbehörde zunahmen, entschloss er sich zur Ausreise nach Litauen.

Der aus der Ryanair-Maschine heraus verhaftete Roman Protasewitsch gehört dem selben Jahrgang an wie Porunkewitsch. Als Mitgründer des Telegram-Nachrichtenkanals Nexta hatte er 2020 die Massenproteste organisiert. Außerdem gab er ein „Schwarzbuch Weißrusslands“ heraus, das persönliche Daten der Mitarbeiter des Staatsschutzes enthält. Der Staat wirft ihm Terrorismus vor, worauf in Weißrussland die Todesstrafe steht. 2019 war Protasewitsch bereits nach Wilna gezogen, weil ihn zu Hause 15 Jahre Gefängnis erwarteten. 

Bürger misstrauen Lukaschenko

Die meisten derjenigen, die gegen den seit fast 30 Jahren amtierenden, autokratischen Präsidenten auf die Straße gehen, sind in den 1990er Jahren geboren. Sie misstrauen Lukaschenko zutiefst, der im Staatsfernsehen vollmundig die vorzüglichen Lebensbedingungen in seinem Reich und die Vorzüge seiner Politik lobt und mit eloquentem Wortschwall seine Gegner beleidigt. Sie spüren und sehen, dass die Realität eine andere ist und begehren dagegen auf. Das Regime schlägt jedoch jede Protestaktion brutal nieder. Oppositionskandidaten wie zuletzt Sergej Tichanowskij werden schon vor der Wahl verhaftet. Die Repressionen gegen Journalisten und Stiftungen haben seitdem stark zugenommen. Momentan soll es mehr als 400 politische Gefangene geben. Theoretisch kann es jeden treffen, etwa, weil er etwas auf Facebook gepostet oder politische Gespräche im Internet geführt hat oder weil er einfach nur zur falschen Zeit am falschen Ort war. 

Tichanowskij war der erste, der auch Menschen in kleineren Städten und auf dem Dorf besuchte. Das Volk erkannte, dass alle unter den gleichen Bedingungen leiden. Das Durchschnittseinkommen beträgt umgerechnet 200 statt der von Lukaschenko angegebenen 3000 US-Dollar, für die angeblich kostenlose medizinische Versorgung müssen die Bürger tief in die Tasche greifen, die staatliche Schulbildung ist schlecht, die Arbeitslosigkeit steigt. Im Durchschnitt geben Weißrussen 40 Prozent ihres Monatseinkommens allein für Lebensmittel aus, in Deutschland und im EU-Durchschnitt sind es etwa elf Prozent. 

Symbolträchtig tritt die Jugend gegen Lukaschenko an, indem sie an die Tradition der Weißrussischen Volksrepublik (BNR) anknüpft, die am 25. März 1918 ausgerufen wurde. Dieser erste belarussische Staat existierte nur bis zum 1. Januar 1919, als die Weißrussische Sozialistische Sowjetrepublik (BSSR) ausgerufen wurde. Als 1991 die Sowjetunion zerfiel, kehrte Weißrussland für einige Jahre zu seiner weiß-rot-weißen Flagge zurück, bis Lukaschenko 1995 zur heutigen rot-grünen Flagge mit den traditionellen Stick-Ornamenten – jedoch ohne Hammer und Sichel – zurückkehrte. 

Neben Russisch ist Belarussisch Amtssprache in Weißrussland. Während erstere die dominierende ist, erlebt letztere in den letzten fünf bis zehn Jahren eine Wiederbelebung. Vor allem junge und westlich orientierte Menschen nutzen sie, um sich von der Sowjetkultur abzugrenzen. 

Sanktionen treffen die Falschen

Die Sanktionen des Westens sind – wie immer – ein zweischneidiges Schwert. Die Absicht, den Öl- und Kaliumsektor, das wirtschaftliche und finanzielle Rückgrat des Landes, zu treffen, dürfte Lukaschenko nur mittelbar schaden, denn Kali-Abnehmer sind neben China auch Indien und Brasilien. 

Die Einstellung des Flugverkehrs kostet das Land wichtige Einnahmen aus Überflugrechten. 2019 hatte die weißrussische Flugaufsicht 325.000 Maschinen von 980 Fluggesellschaften aus 100 Ländern abgefertigt und 70 Millionen Dollar Gebühren eingenommen. Die Sanktionen treiben Lukaschenko weiter in die Arme Russlands. Erst vergangene Woche erhielt er einen neuen Millionenkredit. Moskau lässt es sich seit Jahren einiges kosten, seinen geopolitisch wichtigen Verbündeten am Leben zu erhalten.

Unterdessen treibt es Hunderttausende Oppositionelle ins Exil. Neben führenden Politikern wie Tichanowskaja und ihre Mitstreiter hat die IT-Branche auf die Niederschlagung der Massenproteste reagiert: Hunderte Softwarefirmen und Programmierer haben das Land verlassen, Internetfirmen ihre Entwicklerbüros geschlossen. Bis 2020 lag die IT-Industrie mit 6,1 Prozent am landesweiten Bruttoinlandsprodukt knapp hinter dem traditionell starken Agrarsektor. 

Die Einstellung des Flugverkehrs wirkt sich für die im Land verbliebenen Oppositionellen wie eine zuschnappende Falle aus: Die letzte Möglichkeit, das Land zu verlassen, wurde ihnen genommen. Denn seit Ende 2020 sind die Landgrenzen geschlossen – offiziell wegen Corona. Die einzige Möglichkeit, Weißrussland zu verlassen, war bislang per Flugzeug. Nun führt der einzige Weg aus dem Land über Russland. Dort droht einem politisch Verfolgten ebenfalls die Verhaftung sowie die Auslieferung. Noch immer werden Teilnehmer der Protestaktionen vom Herbst vergangenen Jahres mittels Auswertung von Überwachungskameras identifiziert und wegen der Teilnahme an „unerlaubten Protesten“ festgenommen. Selbst 17- bis 18-Jährigen droht eine Haftstrafe von bis zu vier Jahren.

Sasha Filipenko, 1984 in Minsk geboren und in St. Petersburg lebend, widmet seinen neuen Roman „Der ehemalige Sohn“ (Diogenes Verlag, Zürich 2021, gebunden, 320 Seiten, 23 Euro) der jungen belarusssischen Opposition. Als der Held Franzisk Lukitsch nach einem Unfall zehn Jahre später aus dem Koma erwacht, hat sich in seinem privaten Umfeld zwar alles verändert, politisch jedoch nichts. Der autoritäre Präsident ist noch an der Macht, die jungen Leute verlassen scharenweise das Land. Filipenko sieht sein Buch als Erklärungversuch, warum die Belarussen 2020 plötzlich aus dem Koma erwacht sind.