19.04.2024

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Folge 23-21 vom 11. Juni 2021 / USA / Eine Sternstunde des Whistleblowing / Vor 50 Jahren begann die „New York Times“ mit der Veröffentlichung der von Daniel Ellsberg durchgestochenen Pentagon-Papiere

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 23-21 vom 11. Juni 2021

USA
Eine Sternstunde des Whistleblowing
Vor 50 Jahren begann die „New York Times“ mit der Veröffentlichung der von Daniel Ellsberg durchgestochenen Pentagon-Papiere
Wolfgang Kaufmann

Am Sonntag, dem 13. Juni 1971, erschien in der „New York Times“ ein langer mehrseitiger Artikel von Neil Sheehan mit dem Titel „Vietnam Archive: Pentagon Study Traces 3 Decades of Growing U.S. Involvement“ (Vietnam-Archiv: Pentagon-Studie verfolgt 3 Jahrzehnte wachsenden US-Engagements). Dieser enthielt ausgiebige Zitate aus dem 47 Bände und 7000 Seiten umfassenden „Report of the Office of the Secretary of Defense Vietnam Task Force“ (Bericht des Büros der Einsatzgruppe Vietnam des Verteidigungsministers). Den hatten drei Dutzend Beamte des Verteidigungs- und des Außenministeriums der USA sowie des Weißen Hauses ab 1967 auf Anweisung des von 1961 bis 1968 amtierenden Verteidigungsministers Robert McNamara zusammengestellt. 

Whistleblower wurden mutiger

Bereits die ersten von Sheehan präsentierten Auszüge aus der als „Top Secret“ klassifizierten Analyse samt Dokumentenanhang verdeutlichten das ungeheure Ausmaß der Täuschung der Öffentlichkeit und auch des Parlaments über das immer stärker werdende Engagement der Vereinigten Staaten in Vietnam durch die US-Regierung zur Zeit der Präsidenten Harry S. Truman, Dwight D. Eisenhower, John F. Kennedy und Lyndon B. Johnson. Und in den folgenden Tagen druckte die „New York Times“ auf jeweils drei bis sechs Seiten ihrer aktuellen Ausgaben weitere brisante Auszüge aus den sogenannten Pentagon Papers ab.

Das Ganze schlug ein wie eine Bombe und veranlasste den nunmehr amtierenden Präsidenten Richard Nixon zu dem hektischen Versuch, die Veröffentlichung aus „Gründen der nationalen Sicherheit“ per Gerichtsbeschluss stoppen zu lassen. Zunächst war er damit auch erfolgreich. 

Internet bietet eine Alternative

Allerdings begann am 18. Juni 1971 die „Washington Post“ gleichfalls mit der Publikation der Papiere. Darüber hinaus verlas der demokratische Senator Maurice Gravel in einer Sitzung des Bauausschusses des US-Parlaments größere Teile des Berichtes, wohl wissend, dass er dabei politische Immunität genoss. Kurz darauf, am 30. Juni 1971, traf der Oberste Gerichtshof der Vereinigten Staaten mit sechs gegen drei Stimmen die Entscheidung, dass das von Nixon erwirkte Veröffentlichungsverbot unwirksam sei. Zur Begründung schrieb einer der Richter: „Nur eine freie, unbehindert agierende Presse kann wirksam Täuschungen durch die Regierung aufdecken. Und über allen Verantwortlichkeiten einer freien Presse steht die Pflicht, jeglichen Teil der Regierung daran zu hindern, die Menschen zu betrügen und in ferne Länder zu schicken, um an fremdländischen Krankheiten und fremdländischen Kugeln und Granaten zu sterben.“ Dadurch stand dem weiteren Abdruck der Pentagon-Papiere nichts mehr im Wege, was ganz erheblich mit dazu beitrug, dass der Krieg in Vietnam immer unpopulärer wurde und schließlich beendet werden musste.

Sheehan, Gravel und die Journalisten der „Washington Post“ hatten allesamt dieselbe Quelle: Daniel Ellsberg. Der Mitarbeiter der mit dem Verteidigungsministerium kooperierenden RAND Corporation, den man heute als Whistleblower bezeichnen würde, war zu der Erkenntnis gelangt, dass der Krieg in Vietnam nicht gewonnen werden könne. So fasste er den Entschluss, die kompromittierenden Pentagon-Papiere zu kopieren und publik zu machen. 

Presse schwächelt inzwischen

Nixon tobte anlässlich seiner Enttarnung: „Let’s get the son-of-a-bitch in jail!“ (Lasst uns den Hurensohn hinter Gitter bringen!). Und tatsächlich drohten Ellsberg für den Geheimnisverrat 115 Jahre Gefängnis. Das Verfahren gegen ihn platzte allerdings, weil Nixon einen Einbruch bei Ellsbergs Psychiater autorisiert hatte, in dessen Verlauf die Patientenakte des Whistleblowers gestohlen werden sollte, und dies herauskam. Der Präsident schickte damals übrigens dasselbe Agententeam los wie 1972 beim Verwanzen des Hauptquartiers der Demokraten, durch das der Watergate-Skandal ausgelöst wurde, der Nixon 1974 das Amt kostete.

Die nun ein halbes Jahrhundert zurückliegende Veröffentlichung von Auszügen aus den Pentagon-Papieren warf ein bezeichnendes Licht auf die Dreiecksbeziehung zwischen Whistleblowern, Medienvertretern und Politikern – die heute allerdings nicht mehr dieselbe ist. Zwar nutzen viele Hinweisgeber die Medien nach wie vor als Podium, und investigative Journalisten gieren ihrerseits nach durchgestochenen Informationen. Allerdings bietet das Internet inzwischen eine ganze Menge mehr Möglichkeiten. Derer bedarf es auch zum Wohle der Öffentlichkeit, weil mittlerweile ein Teil der Medien weniger als Wächter agiert, denn als systemnahes Sprachrohr der Herrschenden.

Verfolgung durch die Politik bleibt

Im Nachgang zur spektakulären Offenlegung der Pentagon-Papiere sind die Whistleblower zumindest im Westen deutlich mutiger geworden. Verfolgt werden sie indes nach wie vor, auch im 21. Jahrhundert. So ließ der von 2009 bis 2017 amtierende 44. Präsident der USA, Barack Obama, Hinweisgeber aller Art rigoros verfolgen, bis hin zur Androhung der Todesstrafe. Und auch in Deutschland genießen diejenigen, welche Missstände oder Rechtsverstöße in Wirtschaft und Gesellschaft aufdecken, keinen besonderen Schutz. Vielmehr hat es die Bundesregierung bislang sogar unterlassen, die entsprechende EU-Richtlinie 2019/1937 in nationales Recht umzusetzen.