29.03.2024

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Folge 24-21 vom 18. Juni 2021 / Judikative / EU- über Bundesrecht? / Brüssel will das Bundesverfassungsgericht an die Leine gelegt sehen

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 24-21 vom 18. Juni 2021

Judikative
EU- über Bundesrecht?
Brüssel will das Bundesverfassungsgericht an die Leine gelegt sehen
Hermann Müller

Mit einem kürzlich eingeleiteten Vertragsverletzungsverfahren gegen Deutschland riskiert die EU-Kommission einen jahrelangen Streit, der möglicherweise anders ausgeht, als in Brüssel erhofft. Bei dem Verfahren geht es um ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom Mai letzten Jahres zu einem der Anleihekaufprogramme der Europäischen Zentralbank. 

In dem Fall hatten die Karlsruher Richter 2017 den Europäischen Gerichtshof eingeschaltet. Die Luxemburger Richter billigten die Anleihekäufe. Allerdings sah das Bundesverfassungsgericht die Begründung der EU-Richter als „objektiv willkürlich“ und „schlechterdings nicht mehr nachvollziehbar“ an. Das Recht, in diesem Fall auch nochmals nach der Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs aktiv zu werden, hatten die Karlsruher Verfassungsrichter aus der Rechtsfigur einer Ultra-vires-Kontrolle abgeleitet. Aus Sicht der Richter beschreibt der Ausdruck „ultra-vires“ – jenseits der Gewalten – den Fall, dass ein europäisches Organ bei seiner Arbeit die Kompetenzen überschreitet, die ihm von den Mitgliedstaaten übertragen wurden.

EU-Organ überschritt Kompetenzen

Angekündigt hatte Ursula von der Leyen bereits kurz nach dem Urteil im Mai 2020, die EU-Kommission werde die Einleitung eines Verfahrens gegen Deutschland prüfen. Seit dieser Ankündigung ist ein Jahr vergangen. Aus der Umgebung der EU-Kommissionspräsidentin wird als Erklärung für die lange Verzögerung verbreitet, man habe in der Angelegenheit lange Zeit das Gespräch mit der Bundesregierung gesucht. Kritische Kommentatoren verweisen aber auch auf einen möglichen Zusammenhang mit dem Corona-Wiederaufbaufonds der EU. Die Vermutung: Wäre das Vertragsverletzungsverfahren früher eröffnet worden, wäre die Ratifizierung des schuldenfinanzierten 750-Milliarden-Fonds in Deutschland möglicherweise nicht so glatt über die Bühne gegangen, wie es der Fall war.

Weitaus schwieriger ist es, eine Antwort auf die Frage zu finden, was sich die EU-Kommission davon verspricht, den Vorgang überhaupt wieder aus der Schublade zu holen. Erst vor einem halben Jahr haben die Karlsruher Richter ein sehr kooperatives Signal in Richtung Luxemburg und Brüssel gesendet. Zum Jahreswechsel entschied der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts in einem Beschluss zum EU-Haftbefehl, erstmalig die Unionsgrundrechte als Prüfungsmaßstab heranzuziehen. In der Vergangenheit war für den zweiten Senat stets ausschließlich das deutsche Grundgesetz der unmittelbare Maßstab gewesen.

Mit dem angelaufenen Vertragsverletzungsverfahren müssen sich Richter in Karlsruhe mit ihrer Kooperationsbereitschaft nun vor den Kopf gestoßen fühlen. Die Bundesregierung wird durch das Vorgehen der EU-Kommission in ein Dilemma gestürzt: Normalerweise geht es in den Vertragsverletzungsverfahren der EU um Akte der Exekutive oder der Legislative. Das neue Verfahren läuft indessen darauf hinaus, dass die Bundesregierung einen vermeintlichen Rechtsverstoß beheben muss, den ein Gericht begangen haben soll. Faktisch erwartet Brüssel damit, dass die Regierung der Judikative Grenzen aufzeigt.

Der Europarechtler Franz Mayer nannte dies gegenüber der „FAZ“ ein „fast unübersteigbares Hindernis“. Tatsächlich wäre das Signal verheerend, wenn die Bundesregierung das Bundesverfassungsgericht an die Leine legt.

Offen ist zudem, wie die Verfassungsrichter regieren würden, wenn die Bundesregierung auf Druck Brüssels die Unabhängigkeit der Justiz antastet. Als zumindest theoretisch möglichen Ausweg nannte Mayer eine Verfassungsänderung, um dem Bundesverfassungsgericht Unionsrecht und die Rechtsprechung des EuGH zu entziehen. Der Haken dabei: Die Karlsruher Richter sehen den Ultra-vires-Kontrollvorbehalt ohnehin nur als Instrument für Ausnahmesituationen. Der Anspruch der EU-Kommission, auf dieses letztmögliche Mittel zur Wahrung der Verfassungsidentität zu verzichten, könnte auch für die Verfassungsrichter eine rote Linie darstellen.

Inzwischen zeichnet sich für das Bundesverfassungsgericht auch bereits eine Gelegenheit ab, seinen Kontrollvorbehalt zu verteidigen: Für den CSU-Politiker Peter Gauweiler stellt das initiierte Vertragsverletzungsverfahren nämlich einen weiteren Ultra-vires-Akt dar.

Aus Sicht Gauweilers hat die Bundesregierung in dem Verfahren nur die Möglichkeit, es „ausnahmslos zurückweisen“. Gerade aus dem Urteil vom Mai vergangenen Jahres leitet er ab, dass deutsche Verfassungsorgane, Behörden und Gerichte nicht am Zustandekommen oder bei der Umsetzung von Ultra-vires-Akten mitwirken dürfen. Für den Fall, dass die Regierung dieser Verpflichtung nur unzureichend nachkommt, kündigte Gauweiler eine erneute Verfassungsbeschwerde an.