19.04.2024

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Folge 24-21 vom 18. Juni 2021 / Leitartikel / Vergessene Sternstunde

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 24-21 vom 18. Juni 2021

Leitartikel
Vergessene Sternstunde
René Nehring

Unter den Jahrestagen des Einigungsprozesses wird der 20. Juni 1991, der Tag, an dem der Deutsche Bundestag über den Sitz von Regierung und Parlament des vereinigten Deutschlands abstimmte, kaum noch erinnert. 

Gegenüber den großen und kleinen Dramen der Friedlichen Revolution des Herbstes 1989 mit dem Höhepunkt des Mauerfalls am 9. November steht der Tag des „Hauptstadtbeschlusses“ ebenso im Schatten wie gegenüber der Nacht vom 2. auf den 3. Oktober 1990, als Millionen Landsleute rund um das Brandenburger Tor und den Reichstag über die gelungene Einheit ihres Vaterlands – das Wort gehörte damals noch zum allgemeinen Sprachgebrauch – jubelten. 

Und doch sollte man diesen 20. Juni 1991 nicht vergessen. Denn hier entschied sich, welchen grundsätzlichen Weg die vereinte Bundesrepublik einschlagen würde, ob sie lediglich eine vergrößerte „Bonner Republik“ sein würde, die sich weiterhin vor allem gen Westen orientieren würde, oder ob sie sich als eine „Berliner Republik“ – durchaus unter Fortsetzung der bündnispolitischen Westbindung – nicht doch stärker hin zur geographischen Mitte des Kontinents ausrichten würde. 

Vorbehalte gegen Berlin

Zuvor hatten namhafte Publizisten wahlweise die Angst vor einer „Borussifizierung“ oder „Protestantisierung“ geschürt. Auch die Warnung vor „altem, neuem Großmannsdenken“, das quasi automatisch in die deutsche Außenpolitik zurückkehren würde, sobald diese nicht mehr vom Rhein, sondern von der Spree aus bestimmt würde, durfte nicht fehlen. 

Am Tage der Abstimmung selbst äußerten sich die Berlin-Skeptiker unter den politischen Profis indes vorsichtiger. Norbert Blüm etwa sagte: „Der Nationalstaat, den wir uns wünschen, ist europäisch eingebunden und regional gegliedert. Europäisierung und Regionalisierung, das sind die Pole eines modernen Nationalstaates. Ich frage Sie, meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen: Passt in eine solche bundesstaatliche Lösung eine alles dominierende Hauptstadt?“

Auf der Seite der Berlin-Befürworter blieben vor allem drei Wortmeldungen in Erinnerung: die des alten Willy Brandt, der 1961 als Regierender Bürgermeister fassungslos dem Bau der Mauer zusehen musste, in den 80er Jahren den Traum von der Einheit als „Lebenslüge der Bundesrepublik“ bezeichnete, um mit dem Mauerfall sofort das Zusammenwachsen dessen, „was zusammengehört“ zu verkünden; ferner die Wortmeldungen des damaligen Innenministers Wolfgang Schäuble und des Bundeskanzlers Helmut Kohl. 

Brandt konterte die Ängste vor einer dominierenden Hauptstadt Berlin mit Worten wie: „Beim Thema Europa scheinen einige zu meinen, nationale Hauptstädte werde es bald nicht mehr geben. Ich habe da meine Zweifel, was den Zeitraum angeht. Ich rege Wiedervorlage an, wenn die Briten London, die Spanier Madrid et cetera abgeschafft haben werden.“ Deutlich auch der Vergleich mit einem bedeutenden Nachbarland: „In Frankreich wäre übrigens niemand auf den Gedanken gekommen, im relativ idyllischen Vichy zu bleiben, als fremde Gewalt der Rückkehr in die Hauptstadt an der Seine nicht mehr im Wege stand.“ Bemerkenswert auch Brandts Bekenntnis: „Ich denke, das Preußische taugt immer noch zu mehr als einer bloßen Karikatur.“

Als gewichtigste Rede wurde damals die von Wolfgang Schäuble wahrgenommen, der zunächst an das Hauptstadt-Versprechen der alten Bundesrepublik erinnerte: „Ich glaube, in den 40 Jahren, in denen wir geteilt waren, hätten die allermeisten von uns auf die Frage, wo denn Parlament und Regierung sitzen werden, wenn wir die Wiedervereinigung haben, die Frage nicht verstanden und gesagt: Selbstverständlich in Berlin.“ Auf die Hinweise der Bonn-Befürworter, welche persönlichen Konsequenzen ein Umzug des Regierungssitzes für die Parlamentarier und ihre Mitarbeiter bedeuteten, antwortete Schäuble: „Es geht auch nicht um Arbeitsplätze, Umzugs- oder Reisekosten, um Regionalpolitik oder Strukturpolitik. Das alles ist zwar wichtig, aber in Wahrheit geht es um die Zukunft Deutschlands. Das ist die entscheidende Frage.“ 

Deutlich auch Schäubles Worte darüber, was eine Hauptstadt ausmacht: „Das Symbol für Einheit und Freiheit, für Demokratie und Rechtsstaatlichkeit für das ganze Deutschland war wie keine andere Stadt immer Berlin: von der Luftbrücke über den 17. Juni 1953, den Mauerbau im August 1961 bis zum 9. November 1989 und bis zum 3. Oktober im vergangenen Jahr. (…) Ob wir wirklich ohne Berlin heute wiedervereinigt wären? Ich glaube es nicht.“ Denjenigen, die Berlin als Hindernis für die europäische Einigung ausgaben, hielt er entgegen: „Europa ist mehr als Westeuropa. Deutschland, die Deutschen, wir haben unsere Einheit gewonnen, weil Europa seine Teilung überwinden wollte. Deshalb ist die Entscheidung für Berlin auch eine Entscheidung für die Überwindung der Teilung Europas.“

In Erinnerung geblieben ist neben den Worten Schäubles vor allem, wie Brandt im Anschluss an Schäubles Rede zu diesem hinüberging und ihm still die Hand schüttelte. Eine Geste, die zeigte, dass es Fragen gibt, die weit über dem politischen Streit politischer Rivalen stehen. 

Mit Spannung erwartet wurde auch die Stellungnahme Helmut Kohls, der sich zuvor bedeckt gehalten hatte, und nun klare Worte für Berlin fand: „1947 bin ich mit 17 Jahren zum erstenmal in Berlin gewesen. Es war eine zerstörte Stadt. Wenn mich damals jemand gefragt hätte: Was ist die deutsche Hauptstadt?, wäre die Antwort keine Überlegung wert gewesen; ich hätte gesagt: Das ist selbstverständlich Berlin! (...) Ich war wenige Tage nach dem 17. Juni 1953 dort. Wenn mich am 20. Juni 1953 jemand gefragt hätte: Was ist die deutsche Hauptstadt, und zwar im vollen Sinne des Wortes?, hätte ich gesagt: Berlin. Im Juni 1987 stand ich mit Ronald Reagan vor dem Brandenburger Tor, als er rief: Herr Gorbatschow, öffnen Sie dieses Tor! Wenn mich damals jemand gefragt hätte (…) hätte ich gesagt: Berlin. Ich stand mit den meisten von Ihnen in jener unvergesslichen Nacht vom 2. auf den 3. Oktober 1990, als der Tag der deutschen Einheit um 0 Uhr gefeiert wurde, vor dem Reichstag, und mir war natürlich klar, dass ich für Berlin bin. (...) Das sind keine historischen Reminiszenzen. (...), sondern das ist die Erkenntnis, dass Berlin Brennpunkt deutscher Teilung und der Sehnsucht nach deutscher Einheit war.“ 

Knappes Ergebnis

Am Ende stimmte der Bundestag mit 338 zu 320 Stimmen für den Antrag, den Sitz von Bundestag und Bundesregierung schnellstmöglich nach Berlin zu verlegen.  Auch wenn führende Repräsentanten der alten Bundesrepublik in den Jahren der Teilung viel dafür getan hatten, um mit der Flucht aus der Geschichte auch aus der Nation zu fliehen, hatte der Bundestag damit ein eindrucksvolles Signal für die Rückkehr Deutschlands zu staatlicher Normalität gesetzt. Dass das Ergebnis so knapp ausfiel, erinnert gleichwohl daran, wie weit sich das politische Bonn damals bereits von lange beschworenen Grundsätzen entfernt hatte.