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Folge 24-21 vom 18. Juni 2021 / Antisemitismus / „Große Schande für die Polen“ / Vor 75 Jahren wurden im Pogrom von Kjelzy über 40 Juden ermordet und weitere 80 verletzt

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 24-21 vom 18. Juni 2021

Antisemitismus
„Große Schande für die Polen“
Vor 75 Jahren wurden im Pogrom von Kjelzy über 40 Juden ermordet und weitere 80 verletzt
Wolfgang Kaufmann

Am Abend des 3. Juli 1946 kehrte der achtjährige Henryk Błaszczyk mit schlechtem Gewissen in sein Elternhaus in der polnischen Stadt Kjelzy (Kielce) zurück, aus dem er zwei Tage fortgeblieben war. Aus Angst vor einer Bestrafung erzählte der Junge, Juden hätten ihn im Keller des Gebäudes in der Ulica Planty 7 festgehalten. Daraufhin meldete sein Vater den vermeintlichen Vorfall am nächsten Morgen bei der örtlichen Wache der Polizei, die seit 1944 „Milicja Obywatelska“ (MO, Bürgermiliz) hieß. Wenig später stürmten ein Dutzend Polizisten auf Befehl ihres Vorgesetzten Edmund Zagórski los, um das „Judenhaus“, in dem rund 160 Holocaust-Überlebende untergekommen waren, zu durchsuchen. Dabei verbreiteten sie unterwegs das Gerücht, es gehe um das Aufspüren von Leichen christlicher Kinder, die im Rahmen von Ritualmorden umgebracht worden seien. Den Angehörigen der MO schlossen sich bald darauf rund 100 Soldaten und fünf Offiziere des Korpus Bezpieczeństwa Wewnętrznego (KBW, Korps für Innere Sicherheit), einer speziellen Formation der kommunistischen Streitkräfte, sowie zahlreiche Zivilisten an.

Die Täter waren Polen

Während die Bewaffneten in das Haus eindrangen, das übrigens gar keinen Keller besaß, fiel ein Schuss. Wer diesen abgab, ist unbekannt. Jedenfalls entspann sich nun ein Feuergefecht, in dessen Verlauf es auf beiden Seiten zu mehreren Toten kam. Einige der Bewohner der Ulica Planty 7 flüchteten auf die Straße, wo sie von der Menge gelyncht wurden. Mehrere Hundert polnische Arbeiter aus dem nahebei liegenden Stahlwerk Huta Ludwików sowie weitere Polizisten strömten herbei und beteiligten sich an den Ausschreitungen. Erst nachmittags gegen 15 Uhr hatte der Gewaltausbruch ein Ende. Da sorgten dann weitere Einheiten des Innenministeriums unter dem Kommando von Major Kazimierz Konieczny mit Warnschüssen für Ruhe auf der Straße. Allerdings wurden die verletzten Juden, die ins Krankenhaus gebracht worden waren, dort von anderen Patienten attackiert.

Während des Pogroms von Kjelzy kamen mindestens 42 Holocaust-Überlebende – Männer, Frauen und Kinder – zu Tode. Elf davon wurden erschossen und zwei mittels Bajonettstichen getötet. Der Rest starb durch Steinigung, Schläge mit Knüppeln oder ähnliches. Außerdem gab es 80 zum Teil sehr schwer Verletzte.

Die Nachricht von dem Massaker in der Stadt rund 170 Kilometer südlich von Warschau machte schnell die Runde und versetzte die Juden in Polen in Panik. Zumal bald auch noch andere Pogrome dieser Art stattfanden. Bis Ende 1946 ermordeten polnische Antisemiten insgesamt wohl um die 2000 Juden. 

Daraus resultierte ein Massenexodus. Im Rahmen der zionistischen Fluchthilfebewegung Bricha emigrierten nun Hunderttausende Juden in die Tschechoslowakei und dann weiter nach Palästina oder in die US-amerikanische Besatzungszone Deutschlands. Allein dorthin waren bis 1947 145.000 Juden aus Polen geflüchtet.

Die polnischen Behörden reagierten auf das Pogrom von Kjelzy mit der unverzüglichen Verhaftung von zwölf Zivilisten, die aber im Gegensatz zu den am stärksten involvierten Polizisten und Soldaten wohl eher Mitläufer und sicherlich nicht die Haupttäter oder Anstifter gewesen waren. Neun davon erhielten in einem summarischen Schnellverfahren die Todesstrafe und wurden bereits am Abend des 12. Juli 1946 exekutiert, ohne dass es noch weitere Untersuchungen zu den Hintergründen des Massakers gegeben hätte. Deshalb sind diese bis heute umstritten und bieten Stoff für ganz unterschiedliche Legenden.

So bezichtigte die stalinistische Führung in Warschau polnische Nationalisten der Tat. Die ersten Vorwürfe in diese Richtung äußerte anlässlich der Trauerfeierlichkeiten für die Opfer des Gewaltausbruchs Stanisław Radkiewicz, Chef des Vorläufers des Ministeriums für Staatssicherheit, des Urząd Bezpieczeństwa (UB, Sicherheitsbüro). 

Die polnische Exilregierung in London unter Władysław Raczkiewicz behauptete im Gegensatz dazu, das Pogrom sei von der kommunistischen Führung angeordnet worden, um von den gravierenden Unregelmäßigkeiten beim Referendum vom 30. Juni 1946 abzulenken. Mit dieser Volksabstimmung hatte die provisorische Regierung von Moskaus Gnaden das Ziel verfolgt, die Einführung der „Diktatur des Proletariats“ in Polen voranzutreiben. Infolgedessen war es zu massiven Wahlfälschungen und Behinderungen der Opposition gekommen.

Der Tatort war ein linker Staat

Polnische Antisemiten aller Couleur wiederum lasteten die Ausschreitungen von Kjelzy zionistischen Kreisen an. Diese hätten das Pogrom erst provoziert und danach propagandistisch ausgeschlachtet, um die Auswanderung nach Palästina und die Gründung eines jüdischen Staates zu forcieren. In diese Kerbe schlug später auch der nationalkonservativ-katholisch geprägte Rundfunksender Radio Maryja, indem er kolportierte, in einigen der Särge der angeblichen Opfer des 4. Juli 1946 habe sich nur Sand befunden.

In der bis 1989 existierenden Volksrepublik Polen geriet das Pogrom von Kjelzy schnell zum Tabuthema. In seltener Einmütigkeit arbeiteten die regierenden Kommunisten und die katholische Kirche daran, das Thema unter den Teppich zu kehren. Nichts sollte den nationalen Mythos beschädigen, dass die Polen stets nur Opfer, aber niemals Täter gewesen seien.

Nach dem Ende der Herrschaft der marxistisch-leninistischen Polska Zjednoczona Partia Robotnicza (PZPR, Polnische Vereinigte Arbeiterpartei) wurden neue staatsanwaltliche Ermittlungen angestellt. Sie erbrachten aber keine substanziellen Ergebnisse. Damit bleibt es wohl dabei, dass damals neben einigen subalternen Angehörigen der kommunistischen Sicherheitskräfte nur ganz normale Einwohner von Kjelzy agiert hatten, angetrieben von einem traditionellen Antisemitismus und möglicherweise auch der Angst, die aus den Vernichtungslagern heimkehrenden Juden könnten ihr verlorenes Eigentum zurückfordern. Insofern ist dem damaligen polnischen Staatspräsidenten Lech Kaczyński wohl nicht zu widersprechen, wenn er 2006 am Ort des Verbrechens von einer „großen Schande für die Polen“ sprach.