23.04.2024

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Folge 25-21 vom 25. Juni 2021 / Körperpflege / Kalte Dusche / An warmen Tagen wird viel geduscht. Als häuslichen Komfort haben sich Nasszellen erst vor einem halben Jahrhundert etabliert

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 25-21 vom 25. Juni 2021

Körperpflege
Kalte Dusche
An warmen Tagen wird viel geduscht. Als häuslichen Komfort haben sich Nasszellen erst vor einem halben Jahrhundert etabliert
Nils Aschenbeck

Wie ein Astronaut im Raumschiff leben – das war das Ideal der modernen Menschen um 1970 herum. Eine Delmenhorster Firma bediente die Sehnsüchte und baute wie Raumfahrtkabinen erscheinende Nasszellen für die Wohnanlagen der Zeit. Heute sind die Kabinen wieder ausgebaut und durch individuelle Bäder ersetzt. Ein Museumsstück ist geblieben. 

In den frühen 1970er Jahren wurden Wohnhäuser wie Wohnmaschinen und manchmal wie in Beton gegossene Raumschiffe errichtet. Architekten und Planer glaubten, dass sie die Bedürfnisse der Menschen standardisiert erfüllen können – mit riesigen Wohnkomplexen wie sie in Köln-Chorweiler oder in der Berliner Gropiusstadt entstanden sind. Auch die Hygienebedürfnisse sollten in den Bädern einheitlich und optimal erfüllt werden – durch perfektionierte Nasszellen, in der keine Bewegung überflüssig sein sollte. 

Für das Olympische Dorf der Sommerspiele 1972 in München entwarf der Architekt Werner Wirsing Unterkünfte für Athleten, die anschließend als normale Wohnhäuser zu nutzen waren. In München sollte die beste Architektur der Zeit entstehen – alle Welt sollte sehen, wie fortschrittlich Deutschland geworden sei, wie sehr sich Deutschland von einer dunklen Vergangenheit abgesetzt habe. 

Die Badezimmer in den Wohnungen des Olympischen Dorfes, ebenfalls von Wirsing entworfen, bestanden aus Kunststoffkabinen, die fertig in einer Fabrik in zwei Hälften gegossen und dann vor Ort noch im Rohbau eingefügt wurden. Teil des Gusses waren die Dusche, das Waschbecken und auch die Toilette – alles fugenlos miteinander verbunden, alles abwaschbar wie in einem Dixi-Klo. 

Nutzer dieser „Nasszellen“ bekommen tatsächlich den Eindruck, sich in einer Verrichtungsmaschine zu befinden. Die Hygienebedürfnisse wurden perfekt erfüllt, aber jede Individualität, auch jedes überflüssige Verweilen und Genießen schien nicht möglich. Die Duschkabine „Nizza“, die in München eingebaut wurde, hatte eine Grüße von 1,82 Quadratmetern. Sie wurde in der Fabrik vorgefertigt, zur Baustelle transportiert und innerhalb kurzer Zeit eingebaut und angeschlossen. Auch Hotelanlagen wurden damals mit den Nasszellen ausgestattet, so das Predigtstuhl Resort in Sankt Englmar im Bayerischen Wald. Dort sind noch heute einige wenige Ferienwohnungen zu mieten, die die „Nizza“-Nasszellen aufweisen. 

Die Duschkabinen waren vor 50 Jahren Teil einer Utopie des Wohnens. Es gab keine Gemütlichkeit mehr, keine Kissen und Decken, keine Dekorationen, sondern eine perfekt funktionierende Gestaltung, in der jedes Teil notwendig, jedes Teil an seinem richtigen Platz saß. 

Die schöne neue Welt war die Welt des Raumschiffes oder die des Labors, in dem die Menschen nur noch das Notwendige machen sollten. Das reibungslose Funktionieren war das gesellschaftliche Ideal. Gebaut wurden die Nasszellen auch von einer kleinen Firma in Delmenhorst, der „Möller Sanitär und Kunststoff GmbH“, kurz „Plexi Möller“ genannt. Die Firma, bereits 1938 gegründet, hatte sich nach dem Krieg zu einem beachtlichen Unternehmen entwickelt, dass neben Schwimmbädern vor allem Duschkabinen baute – für Wohnhäuser, Hotels und Kreuzfahrtschiffe. 

Doch der Zeitgeist, der Olympia 1972 getragen hatte, änderte sich bald. Die Menschen wollten nicht wie Labormäuse leben. Sie suchten Individualität auch in den Bädern. Zudem bekamen Kunststoffe nach der Ölkrise 1973 allmählich ein immer schlechteres Image. Ein Bad ganz aus Kunststoff, 1972 noch eine tolle, wünschenswerte Einrichtung, war ab den 1980er Jahren schon etwas Gestriges. Gefragt waren nun edle Keramik und Naturstein. Aus Nasszellen, die der Verrichtung dienten, wurden Wellness-Oasen. 

Das Unternehmen Möller hielt sich dennoch viele Jahre über Wasser, bis es nach 1985 allmählich abgewickelt wurde. 2020 brannte ein Teil der lange leerstehenden Produktionshallen in Delmenhorst-Deichhorst. Jetzt soll dort ein Wohngebiet entstehen. 

Im Jahr 2013 kam der von Wirsing entworfenen „Duscheinheit Nizza“ eine unerwartete Ehre zuteil. Eine original Nasszelle aus dem Olympischen Dorf wurde vor einigen Jahren im Neuen Museum Nürnberg unter dem Titel „Kubus und Keimling“ gezeigt und lässt sich dort auch noch heute betrachten, und zwar als Kunstobjekt, als Teil der Hygienegeschichte und als Teil des modernen Aufbruchs in den 1970er Jahren.