23.04.2024

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Folge 26-21 vom 02. Juli 2021 / Tierischer Verstand / Schöpfer moralischer (Sa-)Tiere – Vor 400 Fahren wurde der Fabeldichter Jean de La Fontaine geboren

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 26-21 vom 02. Juli 2021

Tierischer Verstand
Schöpfer moralischer (Sa-)Tiere – Vor 400 Fahren wurde der Fabeldichter Jean de La Fontaine geboren
Harald Tews

Sind Tiere die besseren Menschen? In den Künsten, wo Tieren humane Eigenschaften angedichtet bekommen, hält sich hartnäckig das Bild von den gefiederten Helden oder solchen auf vier Pfoten, die alle menschlichen Tugenden, aber kaum deren Laster in sich tragen. So wie der „König der Löwen“ ein majestätisches Kuscheltier ist, das keiner Fliege etwas zuleide tun kann, oder wie in Walt Disneys Entenhausen absolutes Rauchverbot herrscht, so sind die tierischen Welten in Film, Literatur oder in Comic und Theater von kindlicher Naivität geprägt.

Eines ist diesen modernen Bestiarien meistens gemeinsam: ein hoher moralischer Anspruch und die Erziehung der zweibeinigen Zuschauer und Leser zum Besseren. Und damit wären wir schon bei der Fabel, dem Ursprung aller heutigen Tierdichtungen. Denn sie hält durch Gleichnisse mit sprechenden Tieren den Menschen einen oft satirischen Spiegel vor, der am Ende mit einer moralischen Aussage abschließt.

Einer der bedeutendsten Fabeldichter der Neuzeit ist der vor 400 Jahren geborene Franzose Jean de La Fontaine, der mit seinen Tierdichtungen einen immensen Einfluss auch auf die Nachwelt hatte. Christian Fürchtegott Gellert, Lessing und – vor allem mit seinem „Reineke Fuchs“ – Goethe bereicherten mit ihren tierischen Gleichnissen die deutsche Literatur. Und in England schuf George Orwell mit seiner „Farm der Tiere“ einen allegorischen Klassiker über Bauernvieh, das im Stall den Stalinismus einführt.

Äsop schuf die Vorlagen

Leidvolle Erfahrungen unter einem anderen Sonnenkönig, nämlich Ludwig XIV., inspirierten den am 8. Juli 1621 getauften und vermutlich auch geborenen La Fontaine zu seinen Fabeln. So harmlos die kurzen Versgedichte auch daherkommen, so sind sie doch nicht ohne Zeitkritik. Das gegenüber dem gefräßigen Wolf unterwürfige Lamm, die diebische Elster, die sich mit falschen Federn schmückt, oder der von Speichelleckern umgebene Löwe – sie alle sind Abbilder der höfischen Gesellschaft. In seinen Kurzsatiren kommt daher auch La Fontaines Protest gegen den Prozess seines Gönners Nicolas Foucquet subversiv zum Ausdruck. Der König ließ den Minister zuvor aus fadenscheinigen Gründen einkerkern.

Für La Fontaine war Ersatz schnell gefunden. Volle 20 Jahre finanzierte die Mäzenin Madame de La Sablière den verschwenderischen, aber in den Pariser Salons gefragten Autor, der wie fast alle damaligen Schriftsteller von der literarischen Arbeit allein nicht leben konnte. Dabei war er produktiv. Er schrieb Dramen und Ballette, wobei selbst Ludwig XIV. es sich nicht nehmen ließ, bei einer Aufführung höchstselbst aufzutreten. Vor seinen zwischen 1668 und 1694 in zwölf Büchern erschienenen Fabeln veröffentlichte der 1695 im Alter von 73 Jahren verstorbene La Fontaine in der Nachfolge Boccaccios frivol-erotische Verserzählungen, die wegen ihrer Obszönitäten später der königlichen Zensur zum Opfer fielen.

Sie sind heute ebenso vergessen wie die meisten seiner 239 Fabeln, von denen viele eine Abwandlung der äsopischen Fabeln waren – also satirische Tiergleichnisse, die dem antiken griechischen Dichter Äsop zugeschrieben wurden. Dabei gründet sich La Fontaines Bekanntheitsgrad laut dem Romanisten Jürgen Grimm „auf nicht mehr als insgesamt fünf Fabeln“: „Die Grille und die Ameise“, „Der Rabe und der Fuchs“, „Der Wolf und das Lamm“, „Der Hase und die Schildkröte“ sowie „Das Milchmädchen und der Milchkrug“. Ein Großteil des anhaltenden Ruhms erklärt sich auch durch die Kupferstiche bekannter Illustratoren wie Grandville und den zahlreichen Übersetzungen auch ins Deutsche. Und heutige Tierfreunde wird es sicher freuen, dass La Fontaine seinen Geschöpfen eine Seele andichtete.

Im Anaconda Verlag ist neu eine Ausgabe mit sämtlichen Fabeln sowie mit Illustrationen von Grandville erschienen (640 Seiten, 7,95 Euro); eine zweisprachige Ausgabe ist in Reclams Universal-Bibliothek herausgekommen (458 Seiten, 12 Euro)





Jean de La Fontaine: „Die Grille und die Ameise“

Die Grille, die den Sommer lang zirpt’ und sang, / litt, da nun der Winter droht’, / harte Zeit und bittre Not: / Nicht das kleinste Würmchen nur, /und von Fliegen keine Spur! / Und vor Hunger weinend leise, / schlich sie zur Nachbarin Ameise, / und fleht’ sie an in ihrer Not, / ihr zu leihn ein Stückchen Brot, / bis der Sommer wiederkehre. / „Hör“, sagt sie, „auf Grillenehre, / vor der Ernte noch bezahl’ / Zins ich dir und Kapital.“ / Die Ameise, die wie manche lieben / Leut’ ihr Geld nicht gern verleiht, / fragt’ die Borgerin: „Zur Sommerszeit, / sag doch, was hast du da getrieben?“ / „Tag und Nacht hab’ ich ergötzt / durch mein Singen alle Leut’.“ / „Durch dein Singen? Sehr erfreut! / Weißt du was? Dann tanze jetzt!“