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Folge 27-21 vom 09. Juli 2021 / „Wo bleibt die Mitte der Vernunft?“ / Die Suche der Deutschen nach ihrer Identität ist so alt wie ihre Geschichte. Wie geht es ihnen am Ende der Ära Merkel? Teil 1 der PAZ-Sommerinterviews zur Lage der Nation

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 27-21 vom 09. Juli 2021

„Wo bleibt die Mitte der Vernunft?“
Die Suche der Deutschen nach ihrer Identität ist so alt wie ihre Geschichte. Wie geht es ihnen am Ende der Ära Merkel? Teil 1 der PAZ-Sommerinterviews zur Lage der Nation
René Nehring

Im Gespräch mit Reinhard Mohr

In seinem neuen Buch beschreibt der Berliner Publizist ein Land „zwischen moralischem Größenwahn und peinlicher Selbstverleugnung“. Während in den Talkshows permanent über alles Mögliche geredet wird, wird über viele echte Probleme kaum gesprochen. Im Zentrum von Mohrs Überlegungen steht die breite politische Mitte, die über Jahrzehnte die Bundesrepublik Deutschland getragen hat und nun seit geraumer Zeit diffus geworden und kaum wahrnehmbar ist. 

Herr Mohr, im Titel Ihres Buches zur Lage der Nation stehen die beiden große Worte „Größenwahn“ und „Selbstverleugnung“. Das klingt nach ziemlicher Verzweiflung über die Lage unseres Landes. Täuscht dieser Eindruck? 

Verzweiflung ist ein bisschen stark ausgedrückt, aber in den letzten Jahren bin ich schon oft ratlos und auch wütend gewesen über die vielfache Unfähigkeit in Deutschland, realistisch auf das eigene Land zu blicken. Stattdessen driften viele Deutsche in die Extreme. Nur, dass heute an die Stelle des Größenwahns, die Welt erobern zu wollen, der Größenwahn getreten ist, die Welt moralisch belehren zu wollen. Das andere Extrem ist die Selbstverleugnung. Erst vor Kurzem haben wieder 300 Grüne auf ihrem Bundesparteitag gefordert, das Wort „Deutschland“ aus dem Titel des Wahlprogramms zu streichen, was nicht nur verrückt ist, sondern auch unlogisch, da es schließlich bei der Bundestagswahl im Herbst um dieses Land geht, das die Grünen regieren wollen. Deshalb frage ich mich: Wo bleibt hier die Mitte, und zwar die Mitte der Vernunft? 

Aber behaupten heute nicht die meisten Parteien, dass sie in der Mitte der Gesellschaft stehen? 

Das ist richtig. Der Punkt ist nur, dass die Mitte profillos und konturlos geworden ist. Ich frage deshalb in meinem Buch auch, wo die Vertreter eines klugen, liberalen Konservativismus sind. 

Außerdem ist eine Mitte, die alle beanspruchen, eben keine Mitte. Wenn die Grünen auch schon als Mitte gelten, dann ist die Mitte kein konkreter Ort mehr. Hinzu kommt, dass sich die alte Mitte-Partei CDU in den Jahren der Regierung Merkel bei Themen wie Energiepolitik und Klima bis hin zum Gender-Gaga deutlich Richtung Grüne, also nach links, bewegt hat. Deshalb fehlt mir die Kontur einer bürgerlich-liberalen Mitte, die es früher lange Zeit gab. 

War die Kanzlerin und langjährige CDU-Vorsitzende Merkel bei den Veränderungen der letzten Jahre eher Gestalterin oder eher das Symptom?

Eher das Symptom. Man muss ihr zugutehalten, dass sie die Wendepunkte ihrer Kanzlerschaft wie die Staatschuldenkrise 2008/09, die Reaktorkatastrophe in Fukushima 2011 oder die Flüchtlingskrise 2015 nicht selbst herbeigeführt hat. Aber sie hat eben allzu oft taktiert und gewartet, bis klar war, wohin der Wind sich dreht. Dadurch hat sie letztlich jede Krise verschärft. 

Es geht in meinem Buch also nicht darum, eine geographische Mitte in der politischen Landschaft festzustellen, die es natürlich immer gibt. Mir geht es vielmehr um die bürgerliche Mitte, die Deutschland in den letzten Jahrzehnten getragen hat, sowie darum zu fragen, was heute ein bürgerlicher Liberalismus oder Konservativismus sein könnte: mit der Zeit zu gehen, aber auch dem Zeitgeist zu widersprechen, wenn es erforderlich ist; beziehungsweise zu versuchen, den Zeitgeist mitzugestalten, anstatt ihm wie zuletzt nur hinterherzulaufen. 

Die Kräfte der politischen Mitte wissen also selbst nicht mehr, wofür sie inhaltlich stehen? 

Genau. Nehmen Sie das Thema Migration. Obwohl seit Jahren in allen europäischen Ländern zu beobachten ist, welche Nebenwirkungen sie eben auch mit sich bringt – islamistische Milieus und islamische Parallelstrukturen, Clan-Kriminalität, Übergriffe auf Frauen und terroristische Gefährdungspotentiale – gibt es bei uns aus falscher Rücksichtnahme oder aus Angst, „die Falschen“ könnten davon profitieren, keine Debatten. Und dies, obwohl alle Statistiken seit Jahren zeigen, dass die übergroße Mehrzahl der zu uns kommenden Migranten keine Verfolgten oder Opfer einer Naturkatastrophe sind. Da sind unsere dänischen, niederländischen und österreichischen Nachbarn, die allesamt nicht von extremistischen Parteien regiert werden, deutlich weiter. Die sozialdemokratische Ministerpräsidentin Mette Frederiksen in Dänemark etwa sagt ohne jede Polemik, wo in ihrem Land die Grenzen der Zuwanderung verlaufen. 

Das erste Kapitel Ihres Buches heißt „Eine kleine Typologie des Deutschlandgefühls“. Was macht für Sie das Deutschlandgefühl unserer Tage aus? 

Das ist vor allem ein diffuses Gefühl der Unsicherheit und der Orientierungslosigkeit – was viel damit zu tun hat, dass die Parteien der Mitte diese Orientierung nicht mehr geben. In den Umfragen zur Zufriedenheit der Bürger sagen die allermeisten, dass es ihnen gut geht. Dennoch sind die populistischen Parteien links und rechts so stark. 

Viel hängt sicherlich auch damit zusammen, dass uns der Patriotismus oder gar der Stolz auf die Leistungen unseres Landes, auf unsere Kultur und Lebensweise oder auch auf unseren Sozialstaat, der niemanden hängenlässt und all die Migranten aufnimmt, ausgetrieben wurden. Dann bleibt eben nicht mehr viel, woran sich die Menschen orientieren können. Andererseits ist es absurd, dass ausgerechnet dieses Land, das sich Millionen Migranten als Zufluchtsort aussuchen, von den Anhängern einer bestimmten Richtung immer wieder schlechtgeredet wird. 

Stattdessen geht das Verdrängen bisheriger Identitäten ungebremst weiter. Unter dem Stichwort Cancel Culture drohen inzwischen selbst „alte weiße Männer“ wie Kant und Hegel, die zu den Vätern der Aufklärung und somit unseres modernen Denkens zählen, plötzlich aussortiert zu werden. Und die Bundeskanzlerin spricht nicht mehr von Deutschen, sondern „von den Bürgern, die schon länger hier leben“. 

Exakt. Deshalb spreche ich auch von einer Mitte ohne Bewusstsein. Die Selbstverleugnung geht inzwischen so weit, dass für viele sogar das Wort „Integration“ unter Verdacht steht, weil wir damit angeblich den zu uns kommenden Migranten unsere Identität aufzwingen würden. Das ist natürlich Unsinn. Zum einen ist Integration keine Zuchtanstalt, zum anderen, darf eine Gesellschaft, die Menschen aus anderen Kulturkreisen aufnimmt, durchaus erwarten, dass die Zugewanderten sich aktiv in die demokratische Realität unseres Landes einbringen. 

Sie sprechen im Zusammenhang mit den Versuchen, über die Veränderungen der Sprache auch die Gesellschaft neu zu konstruieren, davon, dass Sie dies an „sowjetische Sozialingenieure“ erinnert. Ist den Protagonisten dieses Vorgehens bewusst, in welchen geistigen Spuren sie sich bewegen? 

Teils, teils. Sicherlich gibt es viele, die ehrlich glauben, mit einer korrekten Sprache einen Beitrag gegen die Diskriminierung anderer zu leisten. Andererseits dürfen wir nicht vergessen, dass mit dem Scheitern des Kommunismus vor dreißig Jahren ja nicht die Träume zerstoben sind, die Menschen zu einer besseren Welt zu erziehen. Insofern steckt hinter den Manipulationen der Sprache auch das Ziel, wieder einmal einen Anlauf hin zu einer neuen Welt zu unternehmen. 

Dabei wird es dann immer schwieriger, für unser Leben überhaupt noch Worte zu finden, mit denen man nicht aneckt. Selbst ein so harmloses Wort wie „normal“ steht unter Verdacht, alle Menschen, die in irgendeiner Weise „nicht normal“ sind, zu diskreditieren. Man muss also immer neue Worte finden, die niemanden diskriminieren – bis am Ende die Worte gar nichts mehr bedeuten. 

Ohne dass den Betroffenen in irgendeiner Weise geholfen wäre. 

Genau. Wir alten Linken haben früher sicher vieles falsch gesehen. Aber wir haben immer mit klaren Worten die Wirklichkeit beschrieben. Heute will man gar nicht mehr beschreiben oder analysieren, sondern einfach über die Manipulation der Sprache das scheinbar Gute hervorbringen. Wobei natürlich niemand das Recht hat zu entscheiden, was gut ist und was nicht. 

Das zweite Kapitel Ihres Buches heißt „Deutschland peinlich Vaterland“. Da sprechen Sie einerseits von den Krämpfen, die viele Grüne und Linke allein schon bei dem Gedanken an ihr Land bekommen. Andererseits diagnostizieren Sie eine neue Lust an der Entdeckung des eigenen Landes und der Heimat. Besteht also Hoffnung, dass mit einem Generationenwechsel auch eine Entkrampfung im Verhältnis der Deutschen zu ihrem Land eintritt? 

Durchaus. Zum einen gibt es genug Leute, die die inneren Widersprüche des grünen Weltbildes erkennen und ablehnen. Zum anderen blicken viele Bürger mit einem deutlich positiveren Blick auf das Land. Nicht zuletzt, weil die meisten für ihren eigenen Wohlstand und den des Landes hart arbeiten. Diese Leute haben kein Verständnis dafür, wenn ihnen andere ständig ihr Land schlechtreden – und zugleich einen Großteil des Wohlstands dieses schlechtgeredeten Landes auch noch an andere verteilen wollen. 

Das letzte Kapitel ist überschrieben mit der Frage: „Ist ein neuer Realismus möglich?“. Wie lautet Ihre Antwort darauf?

Möglich ist er immer, das zeigt die Geschichte. Dazu gehört jedoch die Bereitschaft, große Themen wie Klima, Migration oder soziale Gerechtigkeit nüchtern zu betrachten. Bei der CO2-Reduktion kann man zum Beispiel fragen, wem es wirklich hilft, hierzulande den CO2-Verbrauch zu bepreisen und ein paar neue Windkrafträder aufzustellen, anstatt zu überlegen, wie in Indien oder China, wo ungleich mehr Kohlendioxid erzeugt wird, Energie gespart werden kann. Stattdessen tun viele bei uns so, als könnten wir mit unseren zwei Prozent des weltweiten CO2-Ausstoßes irgendetwas bewegen. Oder nehmen Sie die Zuwanderung aus dem islamischen Raum, wo jeder sehen kann, dass diese nicht zu einer bunteren Gesellschaft geführt hat, sondern zu vielen kleinen Parallelgesellschaften, die jede für sich monokulturell und auf Abschottung zur deutschen Gesellschaft ausgerichtet ist. 

Und das ist eben mein Vorwurf an Merkel, die im Grunde eine Pragmatikerin ist, dass sie an dieser Stelle, wo die Probleme und deren Folgen für den Zusammenhalt unserer Gesellschaft offensichtlich sind, immer geschwiegen hat. Insofern ist zu hoffen, dass mit dem Ende der Ära Merkel auch wieder mehr echte Debatten geführt werden über die Probleme unserer Zeit und deren mögliche Lösungen. Ansonsten, befürchte ich, wird die Mitte unserer Gesellschaft weiter auseinanderfallen.

Das Interview führte René Nehring.

Reinhard Mohr war von 1996 bis 2004 Redakteur des „Spiegel“ und bis 2010 Autor von „Spiegel Online“. Soeben erschien „Deutschland zwischen Größenwahn und Selbstverleugnung. Warum es keine Mitte mehr gibt“ (Europa Verlag, 2021).

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