19.04.2024

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Folge 27-21 vom 09. Juli 2021 / Literatur / Der Rausch einer ausgedehnten Zeit / Autor von „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ – Vor 150 Jahren wurde Marcel Proust geboren

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 27-21 vom 09. Juli 2021

Literatur
Der Rausch einer ausgedehnten Zeit
Autor von „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ – Vor 150 Jahren wurde Marcel Proust geboren
H. Tews

4000 Seiten sind ein Klacks verglichen mit dem Roman „Artamène oder Kyros der Große“, den die französische Barockautorin Madeleine de Scudéry Mitte des 17. Jahrhunderts verfasst hatte. Mit seinen 13.000 Seiten gilt das Werk als längster Roman des europäischen Kontinents. Deutlich dahinter liegt der längste deutsche Roman, ebenfalls im Barock entstanden. Herzog Anton Ulrich von Braunschweig-Wolfenbüttel hatte neben seiner Regierungstätigkeit offenbar genug Zeit, um zwischen 1677 und 1714 mit „Octavia. Römische Geschichte“ einen Roman von 7200 Seiten zu schreiben. Abgeschlagen dahinter folgen die nächsten deutschen Mammutwerke wie Thomas Manns 1800-seitiger „Josephs“-Tetralogie oder – gemessen an der Zeichenzahl – Arno Schmidts „Zettel’s Traum“. 

4000 Seiten mindestens aber umfasst das nach Jules Romains „Menschen guten Willens“ (27 Bände mit fast 8000 Seiten) zweitlängste moderne französische Romanwerk: Marcel Prousts „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“. In der neuesten, zwischen 2013 und 2017 bei Reclam erschienenen Übersetzung von Bernd-Jürgen Fischer kommt das siebenteilige Werk sogar auf über 6000 Seiten, allerdings inklusive eines Erläuterungsteils.

Man braucht einen langen Atem, um das von Proust-Enthusiasten als „schönsten Roman der Welt“ gerühmte Werk zu lesen. Denn der am 10. Juli 1871 als Arztsohn zur Welt gekommene Proust nahm sich selbst viel Zeit, um seine Erinnerungen von glücklicher Kindheit bis zu seiner Bettlägerigkeit im Boulevard Haussmann, von Weißdornhecken, Einschlafproblemen oder das Fallen eines Regentropfens zu beschreiben. Seine langen, verschachtelten Sätze sind legendär. Geschätzt ein Drittel aller Sätze sollen über zehn Zeilen lang sein. Das verlangt nach viel Geduld bei der Lektüre – und das bei 4000 Seiten! 

Wer tut sich das an? Antwort: Sehr viele haben es getan und werden es noch immer wieder tun. Denn Proust ist Kult. Der eigenwillige Autor, der auch im Sommer im Pelzmantel ausging, um sich vor Asthmaanfällen zu schützen und deshalb auch sein Riesenwerk im wärmenden Bett schrieb, ist neben dem Iren James Joyce der Prototyp des modernen Erzählers. Beide sollen sich kurz vor Prousts frühen Tod durch Lungenentzündung 1922 im Alter von nur 51 Jahren nach einer Premiere von Strawinskis „Le sacre du printemps“ im Pariser Hotel Ritz begegnet sein. Beide Geistesgrößen hatten sich wenig zu sagen. „Ich bedauere, dass ich Monsieur Joyces Werk nicht kenne“, soll Proust gesagt haben, und Joyce behauptete, „Monsieur Proust nie gelesen“ zu haben.

In Deutschland ist Proust dafür sofort gelesen worden. Der Romanist Ernst Robert Curtius war der Erste, der die Bedeutung von „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ erkannte, und ab 1953 erschien bei Suhrkamp die erste Übersetzung von Eva Rechel-Mertens. Das Eintauchen in diese Erinnerungsassoziationen im Roman, die zum Beispiel durch den Biss des Ich-Erzählers in ein Gebäck, einer Madeleine, geweckt werden, bewirkt einen Rausch wie bei einer Wagner-Oper. Wer bei diesen 4000 Seiten durchhält, wird feststellen, dass diese Lektüre keine verlorene Lebenszeit gewesen war.