28.03.2024

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Folge 28-21 vom 16. Juli 2021 / Erinnerung an den NS-Widerstand / Sophie Scholl dominiert das Gedenken / Unter den Gegnern des NS-Regimes wird kaum jemand ähnlich zur Ikone erhoben wie die Studentin. Problematisch wird es, wenn sich plötzlich die „Falschen“ auf sie als Vorbild berufen

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 28-21 vom 16. Juli 2021

Erinnerung an den NS-Widerstand
Sophie Scholl dominiert das Gedenken
Unter den Gegnern des NS-Regimes wird kaum jemand ähnlich zur Ikone erhoben wie die Studentin. Problematisch wird es, wenn sich plötzlich die „Falschen“ auf sie als Vorbild berufen
Erik Lommatzsch

Das Gedächtnis an den 20. Juli 1944 hat seit Jahrzehnten im Gedenken der Bundesrepublik seinen festen Platz. Vor 77 Jahren war es der durch Claus Schenk Graf von Stauffenberg in der „Wolfsschanze“, dem ostpreußischen „Führerhauptquartier“, deponierte Sprengsatz, der am Beginn des bereits nach wenigen Stunden gescheiterten Staatsstreichs stand. Stauffenberg ist der Nachwelt zur Symbolfigur geworden. Dass er zu den Hauptakteuren des 20. Juli und des Widerstands insgesamt zählt, ist nicht zu bestreiten. Dennoch steht das konsequente Wirken anderer Deutscher gegen das NS-Regime – genannt seien etwa Henning von Tresckow, Hans Oster oder Helmuth James Graf von Moltke – in der breiten Erinnerung im Schatten des Attentäters. 

Nur ein Name unter den Gegnern des Nationalsozialismus ist gegenwärtig noch populärer als derjenige Stauffenbergs. Es handelt sich um Sophie Scholl, deren Wirken, gemessen an der realen Bedeutung, recht groß eingeschätzt wird. Der persönliche Mut, die klare politische Positionierung der Studentin, die sich am Ende an den oppositionellen Flugblattaktionen der „Weißen Rose“ beteiligte und im Februar 1943 im Alter von 22 Jahren hingerichtet wurde, sollen keinesfalls in Abrede gestellt werden. 

Identifikationsfigur für die Jugend

Aber obwohl ihr Bruder, Hans Scholl, einer der eigentlichen Initiatoren der Aktionen war und die jüngere Schwester erst viel später eingeweiht wurde, ist er ihr in der öffentlichen Wahrnehmung eindeutig nachgeordnet, ganz zu schweigen von den anderen Mitgliedern des inneren Kreises der „Weißen Rose“ – den Studenten Alexander Schmorell, Christoph Probst und Willi Graf sowie dem Professor Kurt Huber, die sämtlich ebenfalls zum Tode verurteilt wurden.

Sophie Scholl wäre vor einigen Wochen, am 9. Mai, 100 Jahre alt geworden – ein Jahrestag, der sie noch einmal zusätzlich in den Fokus rückte. Literatur über die „Weiße Rose“, stark fokussiert auf die junge Frau, liegt reichlich vor. Unübersehbar sind die Ehrungen, viele Schulen tragen ihren Namen oder den der „Geschwister Scholl“. Seit 2003 steht die Büste von Sophie Scholl in der Walhalla, dem „Gedächtnisort, an dem verdiente deutschsprachige Männer und Frauen gewürdigt werden“. 

Ausgewählt wurde sie stellvertretend: „Im Gedenken an alle, die gegen Unrecht, Gewalt und Terror des ‚Dritten Reiches‘ mutig Widerstand leisteten.“ Dass bei der Entscheidung für Sophie Scholl die Möglichkeit der Identifikation gerade für Jugendliche eine weit größere Rolle spielte als ein Blick auf die Geschichte des deutschen Widerstands, ist offensichtlich. Auch der preisgekrönte deutsche Spielfilm „Sophie Scholl – Die letzten Tage“ von 2005 stellt zugunsten der Hauptprotagonistin die „Weiße Rose“ in den Hintergrund. Anlässlich des 100. Geburtstags feiern sich die ARD-Anstalten BR und SWR damit, dass sie – die neuen medialen Möglichkeiten nutzend – eine „Instagram-Serie“ gestartet haben, die das vor allem jugendliche Zielpublikum unter @ichbinsophiescholl leicht auffinden kann. 

Reichlich zeitgeistige Verarbeitung

Sechsstellige Follower-Zahlen verzeichnet der Kanal. Nutzer können „die zehn letzten Lebensmonate Sophie Scholls verfolgen“, die Widerstandskämpferin wird von einer Schauspielerin verkörpert. Die Verantwortlichen schrecken vor keiner noch so geschmacklosen, zeitgeistanbiedernden Peinlichkeit zurück: „Für Instagram filmt Sophie ihr Leben, sie teilt Fotos, Zeichnungen, Dokumente und schreibt über das, was sie denkt und fühlt. In ‚nachempfundener Echtzeit‘ nimmt sie ihre Follower mit in die Jahre 1942 und 1943.“ 

Problematisch für die tonangebende politische Strömung wird die jahrelange mediale Bearbeitung, wenn sie überraschend bei den „Falschen“ auf fruchtbaren Boden fällt. „Jana aus Kassel“ verkündete bei einer Querdenker-Demonstration in Hannover vergangenen November, dass die sich wie Sophie Scholl fühle, da sie „seit Monaten aktiv im Widerstand“ sei. Sie sei „22 Jahre alt, genau wie Sophie Scholl, bevor sie den Nationalsozialisten zum Opfer fiel“. Ihre Rede wurde abgebrochen, selbst dem Veranstalter war die Angelegenheit wohl nicht recht geheuer. 

Öffentliche Diffamierungen, auch durch die großen Medien, hatte „Jana aus Kassel“ in der Folgezeit über sich ergehen zu lassen. Die Frage, wie sie auf den Vergleich gekommen ist, stellt sich angesichts der Allgegenwart des Sophie-Scholl-Themas kaum jemand. Wohl aber die Frage, ob er wirklich so abwegig ist, wie es im Anschluss suggeriert wurde. 

Entrüstung über „Jana aus Kassel“

Einerseits: Dass „Jana aus Kassel“ für ihre Tätigkeit heute nicht befürchten muss, unter einem Fallbeil zu enden, weiß sie sicher selbst. Andererseits: Darf man nur Gleiches mit Gleichem in Beziehung setzen? Warum darf sie nicht sagen, dass sie einen Zustand als bedrückend empfindet – und zur Verstärkung das reichlich vermittelte Vorbild heranziehen, auch wenn der Vergleich noch so hinkt? 

Auch andere beriefen sich auf die vermittelten Vorbilder, so der Musiker Stefan Mickisch, der durch seine Einführungsvorträge zu den Bayreuther Wagner-Festspielen bekannt wurde und im Februar dieses Jahres verstorben ist, ein Suizid gilt als wahrscheinlich. Mickisch, der zuletzt in scharfer Opposition zur Corona-Politik der Regierung stand, hatte sich mit Hans Scholl verglichen – die entsprechenden Zurechtweisungen blieben nicht aus.

Bezeichnend für die Dünnhäutigkeit derjenigen, die das historische Oppositions- und Widerstands-Ideal pflegen – und hier ist nicht nur an Sophie Scholl und die „Weiße Rose“ gedacht – und nun plötzlich „Instrumentalisierungen“ befürchten, ist die Reaktion des Präsidenten des Bundesverfassungsgerichts, Stephan Harbarth, auf den Vorwurf, die Corona-Politik der Bundesregierung sei „Diktatur“. Harbarth, noch kurz zuvor Mitglied der Unionsfraktion im Bundestag, erklärte, dies seien „absurde und bösartige Parolen“. Man könne sich als Gegner der Maßnahmen nicht auf das Widerstandsrecht des Grundgesetzes berufen. 

Abgesehen davon, dass es befremdlich ist, dass der höchste Richter unabhängig von einer konkreten Klage derartig Stellung bezieht, zeigen die Äußerungen, dass das Reizwort „Widerstand“ inzwischen ein sehr wunder Punkt ist.