25.04.2024

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Folge 29-21 vom 23. Juli 2021 / „Ein neues illiberales Zeitalter“ / Die Suche der Deutschen nach ihrer Identität ist so alt wie ihre Geschichte. Wie geht es ihnen am Ende der Ära Merkel? Teil 3 der PAZ-Sommergespräche 2021 zur Lage der Nation

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 29-21 vom 23. Juli 2021

„Ein neues illiberales Zeitalter“
Die Suche der Deutschen nach ihrer Identität ist so alt wie ihre Geschichte. Wie geht es ihnen am Ende der Ära Merkel? Teil 3 der PAZ-Sommergespräche 2021 zur Lage der Nation
René Nehring

Im Gespräch mit Josef Kraus

Es ist so bequem, unmündig zu sein.“ Dieses berühmte Zitat des Königsberger Philosophen Immanuel Kant nimmt der Pädagoge und Autor Josef Kraus zum Leitmotiv seines neuen Buches. In bester liberaler Manier kritisiert er darin, dass die Mehrheit der Bundesbürger das eigene Denken aufgegeben hat und sich so verhält wie einst die Untertanen in den absolutistischen Monarchien.

Herr Kraus, nach diversen Büchern über unser Bildungssystem widmen Sie sich in Ihrem neuen Buch dem „deutschen Untertanen“ und seinem – so der Untertitel – „vom Denken entwöhnten“ Geist. Das klingt nach starkem Tobak. Was hat Sie zu einer solchen Streitschrift bewogen?

Der deutsche Michel hat sich schafsgeduldig akklimatisiert. Er merkt nicht mehr, dass die Fesseln immer straffer werden. Das Alarmsystem funktioniert nicht mehr. Es geht ihm wie dem „boiled frog“, dem Frosch, der als Wechselblüter das mehr und mehr erhitzte Wasser, in dem er hockt, nicht mehr registriert, bis er gegart ist. Der deutsche Michel verhält sich genauso, er macht zu großen Teilen alles mit, was ihm verpasst wird: die Preisgabe nationaler Souveränität; den (Selbst-)Hass gegen alles Deutsche gepaart mit deutschem Sündenstolz; die Pathologisierung Andersdenkender (als islamo-/xeno/-afro-/homo-/transphob); das Anbiedern der Politik an pubertäres Gehabe; die Duldung massenhaften Asylmissbrauchs; die fortschreitende Islamisierung der Republik durch deren geduldete Schariaisierung (Kinderehen, Genitalbeschneidungen); die Bagatellisierung von Gewalttaten von Migranten als Einzelfälle psychisch Auffälliger; den Verfall der Bundeswehr; die 100.000-fache Tötung ungeborenen Lebens; das Hofieren von 0,1-Prozent-Minderheiten; den Verfall des Bildungswesens; die Zerstörung von Kulturlandschaften durch Windräder; den Verzicht auf die weltweit sichersten Atomkraftwerke; die Zerstörung wichtiger Industriezweige (zum Beispiel die Automobilindustrie); die explodierenden Energiepreise; die Enteignung des Ersparten durch eine Null-Zins-Politik; die zwangsgebührenfinanzierte Indoktrination … Reichen die Beispiele? Mir geht es darum, dass der deutsche Michel das wenigstens wahrnimmt und sich nicht mehr einlullen lässt.

Gleich zu Beginn schreiben Sie, dass seit geraumer Zeit in unserem Lande „das Grundgesetz, die parlamentarische Demokratie, die Gewaltenteilung und der Rechtsstaat“ erodieren und wir uns inmitten „einer (Selbst-)Delegitimierung des Staates“ befinden. Woran machen Sie diesen harten Befund fest?

Ich mache es vor allem daran fest, dass die Gewaltenteilung aus den Fugen geraten ist. Die horizontale und die vertikale. Die horizontale Gewaltenteilung, weil die Legislative, etwa der Bundestag, nur noch abnickt, was die Exekutive, hier das Kanzleramt, vorgibt. Und weil mittlerweile auch das einst hochangesehene Bundesverfassungsgericht, das ja nun bis in die Spitze hinein parteipolitisch besetzt ist, immer mehr politisch willfährige Urteile spricht. Siehe das Urteil zum Klimaschutz. Und die vertikale Gewaltenteilung sehe ich dadurch gefährdet, dass der Bund immer mehr Kompetenzen der Länder an sich zieht, siehe Corona, damit den Föderalismus schwächt und zugleich immer mehr Kompetenzen an den Moloch Brüssel abgibt.
Apropos „Gewalten“: Auch die sogenannte vierte Gewalt versagt in weiten Teilen. Große Teile der Leitmedien inklusive ARD und ZDF sind zu quasi-regierungsamtlichen Apportiermedien geworden. Eine kritische Begleitung der Politik findet kaum noch statt. Die „Preußische Allgemeine“ nehme ich ausdrücklich aus (lacht).

Wo liegen für Sie die Ursachen dieser Entwicklung? Eher in unserer Geschichte – Sie schreiben, dass man bei der Reflexion über Obrigkeitsgläubigkeit und Mündigkeit an Heinrich Manns Figur Diederich Heßling ebenso wenig vorbeikommt wie an Immanuel Kant – oder eher daran, dass es den Deutschen in den vergangenen Jahrzehnten außerordentlich gut ging und sie deshalb das Bewusstsein für die Grundlagen ihres Wohlstands vergessen haben?

Ja, viele Deutsche meinen, dieser Wohlstand habe Ewigkeitswert. Aber weil Sie Heinrich Manns Figur des Diederich Heßling ansprechen: Er ist der Inbegriff der autoritären Persönlichkeit: kuschend nach oben, tretend nach unten. Aber auch diese fiktive und gleichermaßen symptomatische Figur kommt nicht aus dem Nichts. Deutschland ist eine verspätete Nation, das hat mit dem Dreißigjährigen Krieg zu tun. Deutschland war über Jahrhunderte hinweg zersplittert in zig staatliche Autoritäten. Freiheitsbewegungen, siehe 1817 oder 1848, hatten hier keine Chance. Die Folge ist ein Duckmäusertum: individuell und national. Einmal fatalerweise kompensiert im nationalsozialistischen Größenwahn.

Zu den Ursachen des Untertanengeistes zählen Sie auch „alte und neue linke Autoritarismen“. Was verstehen Sie darunter und woran machen Sie diese fest?

Der deutsche Michel ist dabei, mit neuen (oder alten) Ismen und Ideologien, mit neuen Zivil- und Ersatzreligionen in eine subaltern prä-aufklärerische Epoche zurückzufallen. Hin zu neuen Autoritarismen, zu neuen totalitären Phantasiereichen. Wir befinden uns inmitten eines neuen illiberalen Zeitalters, in dem Debatten mit flachen Plattitüden (etymologisch: Wortfladen) wie „Zivilgesellschaft“, mit naiven und gleichermaßen maßregelnden Vorstellungen von Humanitarismus, Moralismus, Antifaschismus, Antirassismus, Genderismus, Kosmopolitismus, ja mit unreflektiert praktizierten Ritualen wie „Zeichen setzen“, „Gesicht zeigen“, „Aufstand der Anständigen“ eine sehr selektive Wachsamkeit prägen und damit Meinungskorridore und Handlungsspielräume einschränken.

Ein anderer Abschnitt Ihres Buches widmet sich dem „Arsenal des Gefügigmachens“. Wie sieht dieses „Arsenal“ aus, und welche „Werkzeuge“ werden darin von wem eingesetzt?

Dieses Arsenal ist mächtig, es wird clever eingesetzt, es wirkt mit Angstmachen, damit unterschwellig, es normiert und konfektioniert Meinungen. Wer anders redet und denkt, unterliegt – etwa als Wissenschaftler, Publizist oder Künstler – bis hin zum sozialen Tod der Ausgrenzung durch die Unkultur der „cancel culture“, wird nicht mehr eingeladen, findet keine Publikationsorgane mehr. Menschen, die anders ticken, werden angeprangert, ausgegrenzt, als „rechts“ oder als „Verschwörungstheoretiker“ abqualifiziert. Die Politik spielt auf dieser Klaviatur, das Kanzleramt etwa beschäftigt Verhaltenspsychologen, die sich entsprechende „nudges“, Stubsereien, ausdenken. Öffentliche Stellen, etwa Kommunen, rufen im Zusammenhang mit Corona zur Denunziation auf. Die Leitmedien betreiben „Framing“. Die NGOs, eigentlich Nicht-Regierungs-Organisationen, verkommen – teilweise staatlich alimentiert – zu semi-staatlichen Organisationen. Die Kirchen gehören in weiten Teilen dazu. Sie sind politisierende NGOs geworden, aber der Glaube scheint ihnen verloren gegangen.

Wie kann sich der Einzelne gegen einen solchen Druck zur Wehr setzen?

Einmischen! Nicht kuschen! Echte Zivilcourage zeigen, keine von der Stange! Nicht nur brav gehen! Sondern angehen gegen politische Irrwege und mediale Verirrungen! Sich schlau machen und nicht nur von SZ, „Spiegel“, ARD und ZDF berieseln lassen! In den sozialen Medien – seriös! – mitmischen! Bürgerinitiativen gründen! Politiker anschreiben! Sie persönlich zur Rede stellen! In ihren Sprechstunden aufsuchen! Leserbriefe schreiben! Bei den Chefredakteuren, Intendanten, Rundfunk- und Fernsehräten protestieren! Unterschriftenaktionen und Aufrufe, zum Beispiel gegen die Verhunzung unserer wunderbaren Sprache durch das Gendern, mitmachen!
Nur ein persönliches Beispiel: Ich habe zusammen mit dem Verein Deutsche Sprache (VDS) zweimal eine Initiative gegen den Unfug der Gendersprache mitgetragen. Nun gut, wir waren zunächst stolz, es haben einmal 80.000, ein andermal 38.000 Leute unterschrieben. Aber warum haben diese Aktion nicht 800.000 oder acht Millionen deutsche Michels unterstützt? Also: Aufwachen!

Zur Lösung des Problems fordern Sie unter anderem „gebildete Eliten“. Haben wir heute etwa keine gebildeten Eliten?

Gewiss haben wir auch Spitzenkräfte: in der Wirtschaft, in der Wissenschaft, in Musik und Sport ohnehin. Auch hochgebildete, reflektierende. In der Publizistik und in der Politik eher weniger. Schauen Sie sich doch an, wie die Rekrutierung der vermeintlichen Spitzenkräfte in Mainstream-Publizistik und Politik stattfindet: Es geht um vermeintlich richtige Haltung, Stromlinienförmigkeit ohne intellektuelle Unterkellerung. Aber sie haben die passenden Netzwerke. Hochgebildete, reflektierende Menschen tun sich solche Rekrutierungsmechanismen nicht an. Das verträgt sich nicht mit ihrer Selbstachtung. Dadurch aber geht dem Gemeinwesen viel intellektuelles Kapital verloren. Denn echte Elite bringt einen Mehrwert für alle.

Im Übrigen: Manchmal schnürt es mir schon den Hals ab, wenn eine Kanzlerin im Mai 2021 gegenüber Schülern einräumt, dass ihre historische Bildung nicht so toll sei. Und das nach 16 Jahren Regentschaft und nach hunderten Weltreisen und Gipfeltreffen! Da hätte man ja einiges nachholen und vertiefen können. Oder wenn eine Kandidatin Baerbock bar jedes naturwissenschaftlichen Basiswissens über neue Energien ahnungslos dahinschwadroniert. Oder wenn Journalisten vermeintlich führender Zeitungen ihre Probleme mit der deutschen Grammatik haben. Es ist dies nicht nur Folge seltsamer Rekrutierungsmechanismen, sondern auch Symptom einer – vormaligen – Bildungsnation im freien Fall.

Und worin sollte sich die Bildung künftiger Eliten von derjenigen heutiger Eliten unterscheiden?

Die Bildung künftiger Eliten hat außer mit hochkarätiger, umfassender Bildung – es muss keine akademische sein – vor allem mit einem umfassenden Verständnis von Elite zu tun. Elite heißt für mich, in Personalunion Leistungs- und Funktionselite sowie zugleich Vorbild-, Werte- und Verantwortungselite zu sein. Das zu sein ist eine Frage von Bildung und Erziehung, und es ist eine Frage der Kriterien, die bei der Positionierung eines Menschen in Eliteränge angelegt werden.

Zu guter Letzt eine persönliche Frage: Wie sieht für Josef Kraus das richtige Verhältnis zwischen selbst-bewussten Bürgern und ihrem fürsorglichen Staat aus?

Ich bin ein großer Verfechter des Subsidiaritätsprinzips, und zwar im menschlichen, institutionellen und staatlichen Bereich, und damit auch Verfechter des christlichen Menschenbildes und des Leitbildes der Sozialen Marktwirtschaft. Das heißt: Der erwachsene Bürger soll sich erst einmal selbst um seine eigenen Belange kümmern. Klar, im Rahmen der Gesetze und bewusst als Teil eines Gemeinwesens. Den Vater Staat, (lacht), gendergerecht müsste man heute sagen: die Gouvernante Staat, soll er erst bemühen und erst bemühen können, wenn die eigenen Kräfte nicht reichen. Es geht mir um Eigenverantwortung und nicht um „komfortable Stallfütterung“ (Wilhelm Röpke) in sozialen Hängematten. Das heißt aber auch, dass ein solcher Bürger das Recht hat, einen ausufernden Staat abzulehnen. Qua Stimmabgabe alle vier oder fünf Jahre und regelmäßig als politisch engagierter Bürger, der mutig oder auch widerborstig das Wort ergreift. Nur ein solcher mündiger, eigenverantwortlicher, umfassend gebildeter und damit urteilsfähiger Bürger ist ein freier Bürger.

Das Interview führte René Nehring.






Josef Kraus war bis zur Pensionierung 2015 Gymnasialdirektor in Niederbayern und von 1987 bis 2017 ehrenamtlicher Präsident des Deutschen Lehrerverbandes. 2018 wurde er mit dem Deutschen Sprachpreis geehrt.

Buch-Tipp
Josef Kraus Der deutsche Untertan. Vom Denken entwöhnt  Verlag Langen Müller 2021, Hardcover, 352 Seiten 24,- Euro