19.04.2024

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Folge 29-21 vom 23. Juli 2021 / Gesellschaft / Zorn eines europäischen Schöngeists / Am 28. Juli feiert Riccardo Muti seinen 80. Geburtstag – Zuvor gab der musikalisch in Wien beheimatete italienische Dirigent ein bemerkenswertes Interview über die politische Korrektheit in der Musikwelt

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 29-21 vom 23. Juli 2021

Gesellschaft
Zorn eines europäischen Schöngeists
Am 28. Juli feiert Riccardo Muti seinen 80. Geburtstag – Zuvor gab der musikalisch in Wien beheimatete italienische Dirigent ein bemerkenswertes Interview über die politische Korrektheit in der Musikwelt
Eberhard Straub

Der italienische Stardirigent Riccardo Muti bekannte unlängst in einem Gespräch mit der Zeitung „Corriere della Sera“, dieser Welt, an die wir uns als „neue Normalität“ gewöhnen sollen, überdrüssig zu sein. Da er sie nicht ändern kann, zieht er es vor, sich aus ihr herauszuhalten. Mit Sir John Falstaff in Giuseppe Verdis gleichnamiger komödiantischer Oper stimmt er überein: Welt voller Gemeinheit, elende Zeiten! „Tutto declina“. Freilich hat er andere Gründe dafür als der Trunkenbold und erotische Dilettant.

Muti vermisst ganz einfach den Ernst, die Ernsthaftigkeit im Leben überhaupt und vor allem in der Kunst. Beim Neujahrskonzert in Wien – ohne Publikum – erinnerte er in einer improvisierten Erklärung vor den üblichen Glückwünschen zum Neuen Jahr die Politiker daran, die Kultur als das wichtigste gesellschaftliche Element nicht zu vernachlässigen. Die Politiker und alle möglichen systemrelevante Kräfte – nicht nur in Italien – bestätigen zu seinem Zorn, dass sie Kultur für eine gleichgültige Angelegenheit halten oder gar für eine gefährliche, den sozialen Frieden zersetzende Macht. Sie verraten alle Prinzipien der Kultur und der zu ihnen gehörenden künstlerischen Ethik.

Der „patria“ verbunden

Muti erinnert einmal mehr Italiener, die jahrhundertelang von Palestrina bis Puccini oder Luigi Nono zur Entwicklung der Musik in Europa Wesentliches beigetragen haben, daran, endlich die vielen Opernhäuser wieder zu öffnen und fast hundert Orchester aus der ihnen auferlegten „Sprachlosigkeit“ zu befreien. Aber Muti, der gar nicht Stumme („muto“) redet zu Tauben oder solchen, die nicht hören wollen, wie er grimmig bemerkt.

Den Politikern und deren „Experten“ fehle es in ihren, dem Lebensernst entgrenzten Räumen eben an Ernst. Kaiser Friedrich II., der schwäbische Sizilianer, hieß einst jeden willkommen, der anständig und ehrenhaft in seinem Reiche leben wollte. Wer dazu auffordert, mit dem gebotenen Ernst über die Einwanderung zu reden, gilt als „Rechter“, und wenn einer sich auch noch – wie Muti – der „patria“, dem Vaterland verbunden fühlt und daher gerne die italienische Hymne bei festlichen Anlässen mit nationaler Bedeutung dirigiert, gerät er in den Verdacht, ein unaufgeklärter Reaktionär zu sein.

Muti war immer ein süditalienischer Sozialdemokrat in der Tradition des italienischen Föderalisten Gaetano Salvemini (1873–1957), ohne je Parteimitglied gewesen zu sein. Dem Unernst in der Politik entspricht, wie er verdeutlicht, der künstlerische Unernst von Dirigenten und Regisseuren, die, statt ein Werk um seiner selbst willen, so gut wie möglich aufzuführen, die Absicht verfolgen, es mit grellen Effekten interessant zu machen.

Muti ist überhaupt kein Feind des sogenannten „Regietheaters“. Er hat früher allerdings mit Giorgio Strehler und Luca Ronconi meisterhafte, eben ernsthafte Regisseure gekannt, die nicht in das Werk beliebige Ideen hineinlegten, sondern sich darein versenkten, um es angemessen „vergegenwärtigen“ zu können.

Dieser Sachwalter der Kunst und der Kultur, der geistigen Freiheit, steht fassungslos vor den allerneuesten Manifestationen des Unernstes unter den Zwängen der politischen Korrektheit. Was um Gottes Willen, fragt er, soll imperialistisch, rassistisch, frauenfeindlich oder homophob an der Musik Bachs und Beethovens oder Schuberts sein, wie sogenannte Wissenschaftler in Großbritannien oder den USA behaupten?

Hätten die heutigen Vorstellungen schon um 1790 offizielle Verfechter gekannt, dann wären Lorenzo da Ponte und Wolfgang Amadeus Mozart selbstverständlich wegen ihrer gemeinsamen Opern als Frauenfeinde und Hassprediger zu Gefängnisstrafen verurteilt worden. Aber das kann ja noch kommen.

Ernsthaftigkeit geht verloren

Wie soll eine ernsthafte Produktion möglich werden, wenn in einer Oper Männer und Frauen, alle möglichen weiteren sexuellen Orientierungen und Rassen in gleicher Weise berücksichtigt werden müssen, sodass sich keiner in seiner Identität verletzt fühlen kann? Für den Dirigenten gibt es nur ein Kriterium in der Kunst: die Qualität, denn Kunst kommt von Können, eine deutsche Devise, die Muti, der mühelos deutsch spricht, vertraut ist. 

Der Unernst fällt diesem strengen und gründlichen „Musikexperten“ nicht zuletzt bei den „Wissenschaftlern“ auf, die auf ihre „Kompetenz“ pochen, doch wegen ihrer Präsenz in den Medien kaum noch zum Denken, geschweige denn zum Forschen kommen. Politiker, Künstler, Wissenschaftler, sie alle sind für ihn geltungssüchtige Scharlatane, die verantwortungslos handeln. Muti ist kein Philosoph und Soziologe.

Bei dem italienischen Philosophen Giorgio Agamben könnte er genug Argumente finden, die seinen Unmut unterstützen. Als katholischer Süditaliener erkennt Muti in der Todesvergessenheit den Grund für den allgemeinen Verlust der Ernsthaftigkeit. Für ihn gehörte der Tod seit der frühen Jugend zum Alltag. Er kann ihn nicht ängstigen. Die Toten wurden zu Hause aufgebahrt. Jeder war für sich mit seiner echten oder eingebildeten Trauer beschäftigt, und dennoch eingebunden in eine Gemeinschaft. Es herrschte eine große Stille, zuweilen bei den Wohlhabenden mit Trauermusik unterbrochen.

Eine einfache, heute phantastische, unvorstellbare Welt, in der selbst das Schlichte mit einer tiefen Menschlichkeit erfüllt war, von der gar nicht viel geredet werden musste. In der dauernd aufgeregten Zeit von heute herrscht auch eine Stille, aber ganz anderer Art.

Die meisten können gar nicht, gefesselt an technische Geräte, sich selbst finden und deshalb auch nicht dem anderen begegnen. In den Restaurants sitzen Vereinzelte, starren auf ihre Bildschirme und haben einander nichts zu sagen. Diese furchtbare Entmenschlichung ist noch weiter fortgeschritten im Zusammenhang der Maßnahmen, die unsere Gesundheit schützen sollen. „Der Verlust an menschlichen Beziehungen ist schrecklich“, teilt Muti mit.

Die Freiheit ist in Gefahr

Er selbst komme aus anderen Zeiten, wie er sagt. Er kann vor der Erschöpfung durch die alles lähmende Gegenwart in das Studium etwa der „Missa solemnis“ Beethovens ausweichen. Der Lebensmüde findet darüber wieder in das Leben zurück. Denn die Aufgabe des Dirigenten bleibt ja weiter die gleiche: sich für Kultur und Schönheit einzusetzen, gerade in diesen trüben Zeiten.

Vor ein paar Wochen gab er in Italien drei Konzerte mit den Wiener Philharmonikern. Auf dem Programm standen Werke deutscher Romantiker. Mit den Wienern ist er seit 50 Jahren verbunden und hat mit ihnen indessen 500 Konzerte gegeben. Wien ist seine besondere musikalische Heimat.

Italiener haben eine besondere Beziehung zu Wien, zu Österreich, und zu Mitteleuropa aufgrund ihrer Geschichte. Wien gilt vielen unter ihnen nicht nur als die Hauptstadt der Musik. Es ist für sie – und Muti – eine wahre Weltstadt, in der viele nationale Stile sich verbanden, ohne in einer anonymen Gleichheit aufzugehen, in der alle Verschiedenheiten verschwinden.

Als sozialdemokratischer Föderalist im Sinne Salveminis weiß er Vielfalt zu schätzen, die zu einer lebendigen Kultur als dem Reich der Freiheit gehört. „Ich bin als freier Mann geboren und bin immer ein freier Mann geblieben.“ Diese Freiheit des Geistes, der weht, wie und wohin er will, sieht er in Gefahr, die Voraussetzung der Kunst und der wahren Humanität.