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Folge 29-21 vom 23. Juli 2021 / DDR / „Wir sind Assis und stehen unter staatlichem Schutz“ / „Kriminell gefährdete Bürger“ waren im SED-Staat gegenüber „fleißigen Erbauern des Sozialismus“ in mancher Hinsicht privilegiert

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 29-21 vom 23. Juli 2021

DDR
„Wir sind Assis und stehen unter staatlichem Schutz“
„Kriminell gefährdete Bürger“ waren im SED-Staat gegenüber „fleißigen Erbauern des Sozialismus“ in mancher Hinsicht privilegiert
Heidrun Budde

Verdrängen, Vertuschen und in Erfolge umdeuten – das war beim Umgang mit Missständen in der DDR gängige Praxis. Das zwangsverordnete Weltbild von den „fleißigen Erbauern des Sozialismus“ durfte nicht angetastet werden. Die Realität wurde durch einen jahrzehntelang praktizierten Selbstbetrug ersetzt, was letztlich mit zum Bankrott des Staates beigetragen hat.

1988 besuchten 3288 „Arbeiterkontrolleure“ des Freien Deutschen Gewerkschaftsbundes (FDGB) 244 Betriebe mit 1165 Meisterbereichen, um die Einhaltung der Arbeitszeit zu überprüfen. Am 5. Dezember 1988 wurde das Ergebnis in einer internen „Sekretariatsinformation“ festgehalten. Es zeigte sich, dass die statistisch erhobenen Ausfallzeiten sehr lückenhaft waren.

„Verletzung der Arbeitsdisziplin“

Die Kontrolleure ermittelten, dass für jeden Werktätigen eine tägliche Ausfallzeit von fünf bis 45 Minuten durch die Nichteinhaltung der Pausen und durch frühzeitiges Aufsuchen der Wasch- und Umkleideräume entstand. Weiter wurde kritisiert, dass Warte- und Stillstandszeiten in der Produktion und die mit gesellschaftlicher Arbeit im Betrieb wie dem Besuch von Versammlungen, Sitzungen, Anleitungen und Schulungen gesellschaftlicher Organisationen verbrachte Zeiten gar nicht erfasst wurden.

Besonders fallen die kritischen Bemerkungen zu den unentschuldigten Fehlstunden auf: „In den überprüften Betrieben sowie in den befragten Meisterbereichen entstehen beträchtliche Ausfallzeiten durch das unentschuldigte Fehlen (UF). Die Zahl der UF-Stunden in den 244 Betrieben haben sich im Vergleich zum Vorjahr von 1.650.500 auf 2.035.000 Stunden – 1.1.-30.9.88 – um 22,7 % erhöht.“

Die Werktätigen in einem festen Arbeitsverhältnis verletzten mit der Arbeitsverweigerung ihre vertraglichen Pflichten, und das Arbeitsgesetzbuch sah vor, dass in solchen Fällen die härteste Strafe, die fristlose Entlassung, ausgesprochen werden konnte. Doch diese rechtliche Möglichkeit fand kaum Anwendung, denn die Betriebsleiter hatten gemäß der „Verordnung über die Aufgaben der örtlichen Räte und der Betriebe bei der Erziehung kriminell gefährdeter Bürger“ vom 19. Dezember 1974 die Pflicht, unentschuldigte Fehlstunden dem örtlichen Rat, Abteilung Innere Angelegenheiten, zu melden.

Nach dieser Rechtsvorschrift waren „kriminell gefährdete Bürger“ solche, die „ernsthafte Anzeichen eines arbeitsscheuen Verhaltens erkennen ließen, obwohl sie arbeitsfähig waren“ oder die „infolge ständigen Alkoholmißbrauchs fortgesetzt die Arbeitsdisziplin verletzten“. Die Mitarbeiter des örtlichen Rates entschieden nach eigenem Ermessen und ohne Klagemöglichkeit der Betroffenen, ob ein Bürger nach dieser Rechtsvorschrift erfasst wurde.

„Arbeitsscheues Verhalten“

Mit der Registrierung wurde die staatliche Auflage der Arbeitsplatzbindung ausgesprochen. Das bedeutete, dass das bestehende Arbeitsrechtsverhältnis nur mit Zustimmung des örtlichen Rates aufgelöst werden durfte. Aus Sorge, dass es dann offiziell Arbeitslose gegeben hätte, wurde diese Zustimmung in aller Regel verweigert. Die Betriebsleitungen wurden zwangsverpflichtet, diese arbeitsunwilligen Kollegen „zu erziehen“.

Die Folgen dieser Verfahrensweise sind in einem internen Bericht des Rates der Stadt Rostock, Abteilung Inneres, vom 1. April 1982 so zu lesen: „Die generelle Nichtanwendung von fristlosen Entlassungen gegenüber kriminell gefährdeten Bürgern hat bei diesen die Auffassung entstehen lassen: ,Wir sind Assis und stehen unter staatlichem Schutz.‘“

Statistiken zeigen, dass es sich hier nicht um Einzelfälle handelte. Wurden im Jahr 1975 in der Stadt Rostock 149 Bürger als „kriminell gefährdet“ erfasst, so waren es 1980 bereits 346. Diese Bürger verursachten enorme Fehlzeiten. So weist beispielsweise ein Bericht vom 18. April 1980 für 1979 aus, dass in einem Rostocker Betrieb von nur zehn Mitarbeitern insgesamt 10.815 unentschuldigte Fehlstunden verursacht wurden. Die Tendenz war steigend. Aus einer internen Statistik geht hervor, dass bis Ende 1983 insgesamt 1917 Rostocker Bürger als arbeitsunwillig und „kriminell gefährdet“ registriert wurden.

Die Dunkelziffer dürfte höher gewesen sein, denn im Protokoll der 14. Sitzung der SED-Bezirksleitung Rostock vom 30. April 1980 (Vertrauliche 13/03 Verschlußsache) wurde festgelegt: „Durch den Rat der Stadt sind weitere Maßnahmen einzuleiten, die sichern, daß kriminell gefährdete Personen lückenlos erfaßt werden und durch die Betriebe ihre Umerziehung wirksamer organisiert wird, personenbezogene Auflagen durchgesetzt und notwendige Kontrollen straffer durchgeführt werden.“

Die Gründe für die Arbeitsverweigerung waren unterschiedlich. Faulheit und Alkoholmissbrauch gehörten dazu, aber auch politischer Ungehorsam. Bei dem vorbestraften und als „kriminell gefährdet“ erfassten Burghard L. heißt es beispielsweise in einem Schreiben vom 11. Mai 1979 zu seinen Beweggründen:

„Ständiger Alkoholmissbrauch“

„Im Verlauf der Durchführung des Ordnungsstrafverfahrens erklärte L., daß ,er mit diesem Staat nichts mehr zu tun haben will und er mit den staatlichen Auflagen nicht einverstanden ist.‘ Er führte an, daß ihm diese Zwangsmaßnahmen nicht passen, bezogen auf die Arbeitsplatzbindung, die ihm auferlegt wurde, weil er an dem Arbeitsplatz, VEB Wasserbau, nicht genügend Geld verdient. Er ist der Ansicht, daß er in der BRD auf Grund seines Berufes mehr verdienen würde und er äußerte dann wörtlich, daß ,er einen Antrag auf Übersiedlung in die BRD stellen will und wenn das nicht genehmigt würde, er R-Flucht begeht.‘ … Bereits vor der Durchführung des Ordnungsstrafverfahrens äußerte er gegenüber dem Gen. G.: ,Er werde alles versuchen, um aus diesem Scheißstaat rauszukommen.‘“

Die Chancen, eine Genehmigung des Übersiedlungsantrages zu bekommen, waren für Burghard L. insbesondere dann gut, wenn er sich weiter kriminalisierte, denn Innenminister Friedrich Dickel stellte in der Ordnung Nr. 0118/77 vom 8. März 1977 (Vertrauliche Verschlußsache I 020 815) einen positiven Bescheid für folgenden Personenkreis in Aussicht: „Bürger, die mehrfach vorbestraft sind und sich einer regelmäßigen Arbeit entziehen, zu asozialen Verhaltensweisen neigen und wo trotz intensiver erzieherischer Einflußnahme keine sichtbaren Fortschritte hinsichtlich der Ausprägung einer positiven Haltung zur Arbeit und zu den Normen des gesellschaftlichen Lebens erzielt werden.“

Diese Verfahrensweise brachte dem SED-Staat zwei Vorteile. Einerseits entledigte er sich der arbeitsunwilligen Bürger und andererseits kassierte er für jede genehmigte Ausreise Westgeld. Nach 1972 bezahlte die Bundesrepublik für eine Ausreiseliste mit 26 Personen 50.000 D-Mark. Ab 1977 galt ein Listenpreis von 100.000 D-Mark. Und ab 1981 hat die Bundesrepublik für eine 26er-Liste rund 200.000 D-Mark bezahlt. Menschenhandel war ein lohnendes „Geschäft“ im SED-Staat, in dem laut Verfassung der „Mensch im Mittelpunkt aller Bemühungen“ stand.