Immer mehr Menschen geben heutzutage an, in der Kindheit oder später sexuell missbraucht beziehungsweise belästigt worden zu sein oder unter Diskriminierung gelitten zu haben. Hieraus entstanden inzwischen sogar sozialpolitische Bewegungen wie MeToo und MeTwo. Dabei kann das autobiographische Gedächtnis, in dem die lebensgeschichtlich relevanten Erfahrungen gespeichert sind, durchaus trügen.
Wissenschaftler wie der israelisch-amerikanische Nobelpreisträger Daniel Kahneman meinen sogar, dass Erinnerungsfehler die Regel und keinesfalls die Ausnahme seien. Dies resultiere aus der Arbeitsweise unseres Gehirns. Und tatsächlich rufen wir Erinnerungen nicht wie Fotos, Filme oder Textseiten ab, sondern rekonstruieren sie aus diversen unbewusst festgehaltenen Erlebnisfragmenten, die je nach Situation zu einem vermeintlich stimmigen Ganzen zusammengefügt werden.
Fremde Erfahrungen übernommen
Dabei gehen aber jedes Mal Informationen über das real Geschehene verloren, während immer neue, eigentlich nicht dazugehörige Versatzstücke aus den Tiefen des Gedächtnisses auftauchen und plötzlich eine Rolle zu spielen beginnen. Das heißt, in unsere autobiographischen Erinnerungen kann auch Gelesenes, Gehörtes oder irgendwie Gesehenes einfließen – die Erfahrungen anderer werden so unsere eigenen. Manchmal vermag ein Außenstehender dies zu erkennen, wenn es immer wieder um dasselbe Ereignis geht und dessen Beschreibungen einander widersprechen.
Ansonsten ist es auch durchaus möglich, das autobiographische Gedächtnis zu manipulieren – beispielsweise, um Scheinerinnerungen an Missbrauch, rassische Diskriminierung oder ähnliches zu wecken. Dies konnte die US-amerikanische Psychologin Elizabeth Loftus in zahlreichen Experimenten nachweisen. Es genügte bereits, den Probanden zu erzählen, dass ein bestimmtes Ereignis in ihrer Kindheit stattgefunden habe, und die „Erinnerung“ daran setzte bei immerhin 25 Prozent der Versuchspersonen ein. Später steigerte die deutsch-kanadische Rechtspsychologin Julia Shaw diese Quote durch ein noch ausgefeilteres Vorgehen sogar bis auf 70 Prozent: So hoch lag der Anteil ihrer Probanden, welche glaubten, sich daran zu erinnern, in der Vergangenheit kriminelle Handlungen begangen zu haben, obwohl dies nicht stimmte.
Kritik an forschen Therapeuten
Eine wichtige Rolle bei der Erzeugung von Scheinerinnerungen spielt Vertrauen. Das sorgt dafür, dass die Suggestion des fiktiven Ereignisses glaubwürdiger ausfällt. Und das macht das Ganze so gefährlich. Im Regelfall vertrauen Patienten ihren Psychotherapeuten. Wenn diese nun meinen, die seelischen Probleme der Klienten resultierten aus traumatischen Erlebnissen in der Vergangenheit, dann versuchen sie oftmals, die Erinnerung daran zu wecken.
Wird dabei zu forsch agiert, ist die Katastrophe vorgegeben: Plötzlich stehen unschuldige Personen als Vergewaltiger oder Ähnliches da. Das führte inzwischen auch schon zu ersten Klagen gegen Psychotherapeuten wegen Unprofessionalität. Dabei weiß aber letztlich niemand, wie hoch die Dunkelziffer bei den Scheinerinnerungen liegt. W.K.