24.04.2024

Preußische Allgemeine Zeitung Zeitung für Deutschland · Das Ostpreußenblatt · Pommersche Zeitung

Suchen und finden
Folge 34-21 vom 27. August 2021 / Wird Afghanistan zum „Totenacker des Westens“? / Die Aufgabe des Landes am Hindukusch ist nicht nur eine Tragödie für die Menschen vor Ort. Für die USA und deren Verbündete in der NATO könnte sich der fluchtartige Rückzug aus Kabul als Anfang eines historischen Niedergangs erweisen

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 34-21 vom 27. August 2021

Wird Afghanistan zum „Totenacker des Westens“?
Die Aufgabe des Landes am Hindukusch ist nicht nur eine Tragödie für die Menschen vor Ort. Für die USA und deren Verbündete in der NATO könnte sich der fluchtartige Rückzug aus Kabul als Anfang eines historischen Niedergangs erweisen
Michael Stürmer

Es gibt Tage im Leben der Völker, die alle Vergangenheit und alle Zukunft resümieren. Nichts bleibt unverändert. Wenn die Tragödie mit der Tür ins Haus fällt, dann ist Geschichte in Realzeit zu erleben, ob man will oder nicht, ob man kann oder nicht. „Ernstfall“ bedeutet „Stunde der Wahrheit“. 

Der japanische Überfall 1941 von Pearl Harbour auf die amerikanische Pazifikflotte war von dieser Art, die Explosion der ersten Atombombe in Hiroshima dito, so auch der Bau der Berliner Mauer 1961 und das Attentat auf John F. Kennedy in Dallas zwei Jahre später sowie dann zuletzt und vor allem der Horror von „Nine/Eleven“, als das World-Trade Center in New York zu Schutt und Asche verbrannte, eingeschlossen alle jene rund 3000 Menschen, die ihr Schicksal am 11. September 2001 in das Zentrum des Wall Street-Kapitalismus geführt hatte.

Hybris und Nemesis 

Die Weltmacht Amerika konnte und wollte damals diesen monströsen Angriff nicht hinnehmen; denn ein Staat, der dergleichen ohne Gegenwehr hinnehmen wollte, wäre verloren. Der Schutz von Leben und Eigentum ist Kern des Verfassungsvertrages westlicher Staaten. Das war der Grund, warum von der amerikanischen Innenpolitik bis in die Abstimmungen der Vereinten Nationen in New York hinein der Ruf nach einem Gegenschlag erschallte und erschallen musste. Damit allerdings war die Weltmacht Amerika tiefer in die Fronten des Nahen und Mittleren Ostens geraten, als es der amerikanischen Ost- und Westküsten-Elite bis dato jemals eingefallen wäre. 

Doch das war nur der Anfang, der erste Akt in einem Drama welthistorischer Wirkung, in dem Hybris und Nemesis ihren Ort fanden. Der Triumph amerikanischer Hochtechnologie zusammen mit dem Einsatz von Special Forces brachte einen Blitzsieg. Aber Siegen ist fast so gefährlich wie Nicht-Siegen. Denn je größer der Sieg, desto größer die Versuchung, immer weiter zu marschieren und die Gelegenheit zu nutzen, alte Rechnungen zu kassieren sowie neue aufzustellen. 

Hybris ist der amerikanischen Republik nicht fremd – und damit auch die hässliche Schwester, genannt Nemesis. Amerika hatte in dem Blitzsieg nach „Nine/Eleven“ die physische Kraft zu siegen, doch was fehlte, war die Fähigkeit, mitten im Siegeslauf anzuhalten, so wie es 1991 der ältere Bush den amerikanischen Truppen im Irak befohlen hatte. 

Jetzt, nach dem Schrecken von „Nine/Eleven“, ließen sich die Amerikaner auf eine gefährliche Strategie ein: „Nation Building“, also die geplante Schaffung einer Nation und ihres Staates, als Weg in die Demokratie und Demokratie als Garantie des ewigen Friedens. Der Widerspruch lag darin, dass die solchermaßen beglückten Völkerschaften die Gabe Amerikas an ihre Vergangenheit und Zukunft nicht zu schätzen wussten, sondern mit allen Mitteln sich dagegen auflehnten. So kam es, dass dem Blitzsieg Amerikas im ersten Afghanistan-Krieg zwei Jahrzehnte eines nahezu aussichtslosen Abnützungskrieges folgten. War das alles nicht beizeiten absehbar? 

Ende der „Pax Americana“?

Ob der Einmarsch der Taliban in Kabul in die Reihe großer, irreversibler Wendepunkte gehört, das wird sich hier und jetzt entscheiden, jedenfalls sehr bald und ohne Revisionsinstanz. Sicher ist jedenfalls, dass nichts mehr so sein wird, wie es einmal war. „Nine/Eleven“ war ein Kriegsakt revolutionärer Art. Ob sich Amerika, Europa und der Westen insgesamt – eingeschlossen seine Alliierten im pazifischen Raum – noch einmal von Schock und Niederlage erholen werden, ist nicht gewiss. Unmöglich ist es nicht, aber es wird, anders als gewohnt, mehr als die Bündnisroutine der westlichen Institutionen brauchen. Alle Strategie von Amerika zu erwarten, und selbst allenfalls murrend im Tross mitzumarschieren, wird nicht mehr genug sein. Amerika und der Westen insgesamt werden jene Energien mobilisieren müssen, die lange, zu lange, brach lagen aus Opportunismus und strategischer Bequemlichkeit.

Denn die „Pax Americana“, die von den USA nach dem Zweiten Weltkrieg errichtete und über den Zusammenbruch des Ostblocks hinübergerettete Friedens- und Weltordnung, hat ihre Zukunftsgewissheit, ihre innere Stärke und ihre Reichweite offenkundig nicht mehr zur freien Verfügung. Die Vereinigten Staaten von Amerika, wo immer innere Spannkraft und äußere Prägekraft einander bedingten, werden erst einmal für lange Zeit auf sich selbst zurückgeworfen. Amerika, die stärkste Militärmacht der Welt, kann Kriege immer noch führen, aber nicht mehr gewinnen. Es fehlt an der Bereitschaft, Verluste, die unausweichlich sind, hinzunehmen. 

Das aber verändert die gesamte Machtgeometrie rund um den Globus. Amerikas Präsenz in Flugzeugträgergruppen und 200 Stützpunkten rund um die Welt fehlt die seelische Energie, die ein jedes Imperium braucht, auch ein demokratisches. Es gehört zur Tragödie der Weltmacht, dass sie sich nicht von der Weltordnung über Nacht verabschieden kann. „Bound to lead“ lautete schon vor Jahren der Buchtitel eines der klügsten Harvard-Strategen, Professor Joe Nye, der warnte, Amerika müsse führen, und könne sich dem nicht entziehen, aber solche Führung, so Nye, kostet Blut und Tränen.

Stunden und Tage der Wahrheit

Um zu ermessen, wie gering die Anlässe zu politischen Katastrophen sein können und wie weit die Wirkungen einer solchen Wende, zeigt ein Blick auf die ältere europäische Geschichte. Die Kriegswende vom September 1792, mitten in den Wirrnissen der Französischen Revolution, war von dieser Art und hat Auswirkung bis heute. Damals scheiterte die Reichsarmee auf dem Marsch ins revolutionäre Frankreich an dem ewigen Regen in Folge eines Vulkanausbruchs in Island, an der Artillerie der französischen Revolutionsarmee sowie an der Unlust, noch weiter für eine verlorene Sache zu kämpfen und das Leben in die Schanze zu schlagen. Einen Tag nach dem Abzug der deutschen Truppen wurde der König in Paris für abgesetzt erklärt – und der Untergang der alten Welt war besiegelt. 

Johann Wolfgang von Goethe, damals Sachsen-Weimarischer Staatsminister, hatte die Soldaten in den Krieg begleitet. Sein Kommentar zu diesem als „Kanonade von Valmy“ in die Geschichte gegangenen Ereignis hat bis heute an Wahrheit und Wirklichkeit nicht verloren: „Von hier und heute nimmt eine neue Epoche der Weltgeschichte ihren Ausgang, und ihr könnt sagen, Ihr seid dabei gewesen.“ 

Von Afghanistan war zu Goethes Zeiten in Europa noch kaum die Rede. Aber die Psychologie von Krieg und Frieden gab es seit tausenden von Jahren, und so auch heute. Was sich jetzt in Afghanistan abgespielt hat und weiter abspielt, ist eine Tragödie für alle in Afghanistan und weit darüber hinaus, die es mit dem Westen halten. Die große Desillusion ist unterwegs. Denn auch das gehört zur Modernität der Globalisierung, dass es keine geheimen Zonen und versteckten Gefahren mehr gibt. Die Stunde der Wahrheit kann jedermann und überall schlagen. Dass die neuen Herren des alten China mit Befriedigung, und gewiss auch Schadenfreude darauf schauen, wenn Asien in Bewegung gerät, das sie doch längst als Erbmasse alter Imperien für sich in Anspruch nehmen, ist zu vermuten. Die chinesische Kriegslehre des Sun Tsu mahnt aus ältesten Zeiten die Führung in Peking, es nicht zu eilig zu haben, sondern die Risiken zu berechnen und abzuwarten, welche weiteren Desaster das Drama von Kabul und Umgebung noch zu bieten hat. 

Am 15. und 16. August 2021 waren es wilde Gesellen, die Furcht und Schrecken verheißend ihren Sieg demonstrierten, zum Schauder der übrigen Welt. Binnen weniger Stunden gehörte ihnen die Viermillionenstadt Kabul, die über Jahre hochgepäppelt worden war mit Dollars in nahezu unbegrenzter Höhe und Waffen zum jederzeitigen Gebrauch. Die Feier der Taliban galt nicht nur dem Triumph über Amerika, die NATO und den Westen insgesamt. Ein Déjà-vu bemächtigte sich derer, die noch über ein strategisches Gedächtnis verfügen: Saigon im Jahr 1975? Auch da gab es nach vielen Jahren Krieg einen ausgefeilten Friedensvertrag, von dem nichts blieb als Asche und Blut. Dies war keine Niederlage wie zuvor, in anderen Weltgegenden, sondern bedeutete auf Jahrzehnte die Weltmacht zweier Ozeane in Agonie. 

„Totenacker der Imperien“

Afghanistan, so sieht es aus, wird auf lange Zeit ein Name voller Gefahr und Drohung sein: „Graveyard of Empire“, „Totenacker der Imperien“, nennen die regional schmerzhaft erfahrenen britischen Historiker das Land, in dem der Schlüssel zu Zentralasien liegt, halbwegs zwischen dem Indischen Ozean und den Felswüsten des Hindukusch. Niemals in der Geschichte gehörte Afghanistan den Afghanen und ihren Stämmen, allenfalls in kurzen Zeiten der Erschöpfung, des Verhandelns und des Kompromisses. Denn für die umliegenden Großmächte war die zentrale Lage des Landes in Asien immer zu attraktiv, um es sich selbst zu überlassen. Geschichtsbeflissene Generalstäbler, wenn es sie denn noch gibt, mögen sich beim Nennen des Namens Afghanistan erinnern, dass selbst Alexander der Große, dem es an Menschen und Material zu seiner Zeit nicht fehlte, in Afghanistan den Punkt erreichte, wo er nicht mehr weiter wusste. Die Diadochenreiche der Antike, immerhin, kämpften um die Erbmasse des Alexanderreiches noch für viele Jahrhunderte. 

Afghanistan ist ein Land, dessen Geschichte bis heute und wahrscheinlich noch für einige Zeit nach den Kriegen bemessen wird, die dort ihren Schauplatz fanden. Ikonisch jenes Bild aus der Mitte des 19. Jahrhunderts aus einem der britischen Versuche, Afghanistan zu unterwerfen, wie der Arzt eines britischen Regiments als einzig Überlebender die gewundene Straße über den Khyber-Pass heraufwankte und von nichts als Kämpfen und Niederlagen zu berichten wusste. Die Geschichte Afghanistans ist die Geschichte endloser Kriege zwischen den verschiedensten Akteuren, untereinander und gegeneinander. 

Es gab einmal – und vielleicht gibt es das im Verborgenen noch immer – ein Afghanistan, das offen zur Welt und geschäftsfähig war. Als die Briten kurz nach dem Ersten Weltkrieg die Erben des alten Afghanistan in die staatliche Souveränität entließen, sah es sogar einige Zeit so aus, als habe das friedlose Land endlich Frieden gefunden – das Deutsche Reich zum Beispiel baute eine Sonderbeziehung auf, die beides zeigte: dass Afghanistan für Demokratie ungeeignet war, aber wohl geeignet für wirtschaftlichen Aufbau und ein funktionierendes Staatswesen asiatischer Prägung. 

In den Trümmern der Geschichte

Das Afghanistan von heute ist ein fortwirkendes Desaster in den Trümmern seiner Geschichte, mit Nachbarn aus der Hölle. „Nine/Eleven“ kam nicht aus heiterem Himmel. 1979 hatte die sozialrevolutionäre Predigt des Ajatollah Chomeini den Iran des Schah und dann die gesamte Region in Flammen gesetzt. Saddam Hussein, der starke Mann von Bagdad glaubte, leichtes Spiel zu haben, und fand sogar Unterstützung in Washington. 

Seltsam war, dass zur selben Zeit die alten Männer hinter den Kreml-Mauern noch einmal siegen wollten, und eine Streitmacht von 110.000 Mann von Norden nach Afghanistan schickten, um den dortigen Kommunisten den Rücken zu steifen und endlich den Zugang zum warmen Meer in russische Hände zu nehmen. 

Der Gebirgskrieg in Afghanistan wurde zur Katastrophe der sowjetischen Soldaten, als die Amerikaner die Mudschaheddin mit Stinger-Boden-Luft-Raketen überreich versorgten. Niemand weiß bis heute, wo die überschüssigen Raketen geblieben sind. Die Sowjetführung musste den Krieg in Afghanistan abbrechen: Es war, wie man heute mit der Gewissheit des Rückblicks sagen kann, der Anfang vom Ende der Sowjetmacht.

Mittelpunkt des „Great Game“

Schon einmal war eine russische Armee in Afghanistan gescheitert: im „Great Game“, dem „großen Spiel“ des 19. Jahrhunderts, gegen das Britische Weltreich. Ende des 20. Jahrhunderts trafen die sowjetischen Divisionen abermals auf den alten Gegner im „Great Game“, wie Rudyard Kipling den niemals endenden kleinen Krieg gegen das British Empire nannte. Immer ging es um die Grenze am Khyber Pass hoch oben im Gebirge, wo an der Grenze zu Britisch-Indien heute Pakistan liegt. Mit der sowjetischen Invasion, der Weihnachtsüberraschung des Jahres 1979 für den Westen, in den Schluchten des Hindukusch, war es das Ziel der Mission, die das Moskauer Politbüro in jenes Land entsandte, das immer wieder Gegenstand sowjetischer Strategien war, den direkten Zugang zum offenen Meer zu finden unter Umgehung des Suez-Kanals und der britisch-amerikanischen Kontrolle dieses wichtigsten aller Seewege.

Die sowjetische Führung glaubte offenbar, dass ihre Gefolgsleute in Afghanistan, die Kraft der kommunistischen Ideologie und die Schwäche Amerikas nach Vietnam die Straße zum Indischen Ozean ebnen würden. Diese Straße führte in Wahrheit aber ins Verderben der russischen Interventionstruppe. 

Wenig ahnten die alten Männer im Kreml, dass Gebirgskriegsführung in Afghanistan eine Sache war, eine ganz andere, die ländliche Bevölkerung zu gewinnen. Die Vereinigten Staaten gossen in den 1980er Jahren kräftig Öl ins Feuer, indem das Pentagon und die CIA alles taten, um den Russen bei Tage und bei Nacht das Leben zur Hölle zu machen. Am wirkungsvollsten war der Einsatz der Stinger-Raketen, die speziell geeignet waren, um die sowjetischen Kampfhubschrauber vom Himmel zu holen. Die CIA und einzelne Kongressabgeordnete führten ihren eigenen Krieg im Zusammenspiel mit den heimischen Partisanen – darunter nicht zuletzt ein junger Araber namens Osama bin Laden. 

Die Kombination aus High-Tech und religiöser Stärke, dazu eine Geographie wie aus dem Lehrbuch für Partisanen, taten ein Übriges. Als die russischen Verluste, vor allem unter Wehrpflichtigen, ins Unerträgliche stiegen und in Moskau Demonstrationen gegen den Krieg abgehalten wurden – unerhört in der russischen Geschichte der Protest der Mütter – und als zugleich Gorbatschow als Reformer anfing, der bald den Krieg zu beenden suchte, war dies, aus heutiger Sicht, der Anfang vom Ende der Sowjetunion. Dafür allerdings brauchte es noch Zeit und Umwege. 

Das Scheitern des Westens

Aber Afghanistan gehörte noch lange nicht den Afghanen allein. Die Islamisten bekamen aus benachbarten, arabischen Ländern große Mengen an Geld, vieles davon als Schutzgeld reicher Araber an die Mudschaheddin überwiesen, und veranstalteten ihren eigenen Glaubenskrieg. Sie taten dies bis zum 11. September 2001 und erreichten an „Nine/Eleven“ einen Erfolg von weltgeschichtlicher Wirkung. Was ihnen dabei gelang war, die USA in einen Glaubenskrieg hineinzuziehen.

Das traf nicht nur den Kern amerikanischer Macht, sondern auch das Selbstverständnis Amerikas als Führungsmacht eines säkularen Weltentwurfs. Jetzt zeigte sich, dass die Warnung des Harvard-Professors Samuel Huntington schon zu Beginn der 1990er Jahre die neue Realität präzise erkannt und vorausgesagt hatte. Schlüsselbegriff der Epoche wurde der „Clash of Civilizations“, ein Zivilisationskrieg mit anderen Worten, den die Islamisten nicht verlieren und die USA nicht gewinnen konnten. 

Den Krieg gegen die Taliban und al-Qaida, den die US-Amerikaner nach „Nine/Eleven“ in Afghanistan führten, gewannen sie binnen Wochen – mit der Überlegenheit an Technik und allen Künsten des großen Krieges, mit militärischer und moralischer Unterstützung nahezu der ganzen Welt. Doch hatte der scheinbar mühelose Sieg zur Folge, dass die Führung in Washington sich auf einen neuen, ganz anderen Krieg einließ, nämlich den, 

„hearts and minds“ (Herzen und Köpfe) zu gewinnen. Das Unternehmen war weniger von Hybris bestimmt, wie viele Europäer meinten, als von der traditionellen amerikanischen Ideologie, dass Demokratie ein allumfassendes Friedensprojekt sei und mithin der Einsatz für weltweite Demokratie auch ein Einsatz für weltweiten Frieden sein würde. Geistesgeschichtlich geht dies weit zurück auf die Lehren der Aufklärung Immanuel Kants in Europa sowie auf die Väter der nordamerikanischen Unabhängigkeitsbewegung und Gründer der Vereinigten Staaten. 

Doch zugleich machte sich die Doppeldeutigkeit der US-amerikanischen Werte bemerkbar: Auf der einen Seite Leuchtturm der Freiheit für den unerleuchteten Rest der Welt zu sein, auf der anderen Seite die Warnung des Republikgründers George Washington, sich von europäischen Allianzen fernzuhalten. Und so schlugen sich auch im Nach-Taliban-Afghanistan der 2000er Jahre die europäischen und asiatischen Verbündeten schon bald in die Büsche, mit Ausnahme Deutschlands, das zum einen aus der Sentimentalität des Bündnisses, zum anderen aus Dankbarkeit für 60 Jahre Wacht an Elbe und Werra den USA die Treue hielt. Damit war aus der Strafexpedition der frühen Tage ein Krieg von langer Dauer und geringer Erfolgsaussicht geworden; und nach 20 Jahren waren die USA, wie der Wahlkampf Joe Biden gegen Donald Trump im vergangenen Jahr zeigte, kriegsmüde. Die Afghanen hat in all diesen Jahren niemand gefragt, weder bei der Eroberung ihres Landes, noch bei dessen fluchtartiger Aufgabe. 

Europäische Perspektiven

In Afghanistan, das kann man sicher sagen, werden künftig die Islamisten das große Wort führen und deren Gesinnungsgenossen weltweit Basis und Verstärkung bieten. Aber wesentlich tiefer wird die Erschütterung der USA und ihres Glaubens an sich selbst gehen. Europa – wo man es wie so oft versäumt hat, beizeiten vorzubauen – wird alles tun müssen, ein nunmehr von der Niederlage traumatisch geprägtes Amerika als Schutzmacht zu halten und zugleich die inneren Stärken der europäischen Staatenwelt auszubauen und zu erneuern. Murrend im Tross der Amerikaner, knauserig bei der Ausstattung der Soldaten und geschichtsvergessen in Sicherheits- und Verteidigungspolitik, werden die Europäer in eine Prüfung gestellt, in der es um mehr geht als fromme Wünsche und unbezahlte Rechnungen. Dazu werden die Europäer den Faktor China mehr als bisher als weltpolitische Bewegungskraft einbeziehen müssen in ihre Strategie, und das schon deshalb, weil der große pazifische Konflikt bereits heute und in Zukunft noch viel mehr die „Pax Americana“ überschattet. Mit anderen Worten: Die Europäer werden angesichts der Krise Amerikas beides leisten müssen: Solidarität mit den USA zu üben, schon aus eigenstem Interesse, und eine andere Gleichgewichtsordnung als bisher entwickeln müssen. 

Alles begann in Kabul, aber dort wird die Desillusion nicht enden. Von den europäischen Politikern, quer zu allen Ideologien, wird Führung verlangt wie schon lange nicht mehr. Die Niederlage in Kabul ist nicht nur eine afghanische oder eine US-amerikanische Sache. Sie wird auch auf lange Sicht Erfolg und Scheitern der Europäer bestimmen. Der Ernstfall, in diesem Teil der Welt lange Zeit nicht ernst genommen, hat seine eigenen Gesetze.






Prof. Dr. Michael Stürmer war von 1988 bis 1998 Direktor der Stiftung Wissenschaft und Politik sowie von 1973 bis 2003 Professor für Mittlere und Neuere Geschichte an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg. Seit 1998 ist er Chefkorrespondent von „Welt“ und „Welt am Sonntag“. Zu seinen Schriften gehört „Das ruhelose Reich. Deutschland 1866–1918“ (Siedler 1983), „Die Kunst des Gleichgewichts“ (Propyläen 2001) sowie „Russland. Das Land, das aus der Kälte kommt“ (Murmann 2008). 

www.welt.de