01.05.2024

Preußische Allgemeine Zeitung Zeitung für Deutschland · Das Ostpreußenblatt · Pommersche Zeitung

Suchen und finden
Folge 35-21 vom 03. September 2021 / Der erste König ohne Land? / Laut Umfragen hat Finanzminister Olaf Scholz beste Chancen, nächster Kanzler zu werden. Verdrängt wird dabei, dass vor Kurzem noch seine eigene SPD ihn nicht wollte – und er selbst nun alles tut, damit niemand merkt, welcher Partei er angehört

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 35-21 vom 03. September 2021

Der erste König ohne Land?
Laut Umfragen hat Finanzminister Olaf Scholz beste Chancen, nächster Kanzler zu werden. Verdrängt wird dabei, dass vor Kurzem noch seine eigene SPD ihn nicht wollte – und er selbst nun alles tut, damit niemand merkt, welcher Partei er angehört
Reinhard Mohr

Seien wir ehrlich: Der Mann hat die Ausstrahlung eines Knäckebrots. Seine trockene, tonlose Sprechweise, die scheinbar auf Knopfdruck an- und abgeschaltet werden kann, trug ihm einst die Bezeichnung „Scholzomat“ ein. Von außen betrachtet wirkt er wie ein Mann ohne Eigenschaften. Ihm geht jedes Charisma ab, und niemand würde ihm jemals den „Orden wider den tierischen Ernst“ antragen. Als Hanseat hat er mit Karneval sowieso nichts im Sinn, und so ist das höchste der Gefühle jenes „schlumpfige Grinsen“, das Markus Söder schon vor Monaten an ihm entdeckte. 

Und wer weiß: Vielleicht hat Scholz schon damals mehr geahnt als alle anderen, dass er nach der kommenden Bundestagswahl gute Chancen hat, der nächste Bundeskanzler zu werden. Und so kam es. Heimlich, still und leise hat er sich nach vorne gearbeitet und liegt nun in den persönlichen Sympathiewerten weit vor Armin Laschet und Annalena Baerbock. Scholz profitiert natürlich vor allem von der Tatsache, dass seine beiden Konkurrenten um das Kanzleramt die jeweils schwächere Wahl gegenüber ihren innerparteilichen Wettbewerbern waren – Markus Söder und Robert Habeck. Und so zieht Scholz die SPD in lange Zeit undenkbare Höhen, während Union und Grüne immer weiter abfallen.

Die eigene Partei wollte ihn nicht 

Schon wird vom „Scholz-Wunder“ geredet, vom geradezu märchenhaften Aufstieg jenes Mannes, den die seit Jahren dahinsiechende SPD vor zwei Jahren nicht einmal zum Parteivorsitzenden haben wollte und sich stattdessen für Saskia Esken und Norbert Walter-Borjans (NoWaBo) entschied, also für die B-, ja C-Klasse der ehedem von Personen wie Ferdinand Lassalle, August Bebel, Friedrich Ebert, Willy Brandt oder Helmut Schmidt geführten Sozialdemokratie, die zuletzt wie einbetoniert schien im schändlichen 15-Prozent-Turm der Meinungsumfragen.

Der öffentliche Spott über Frau Esken, deren höchstes politisches Amt zuvor der Posten der stellvertretenden Vorsitzenden des Landeselternbeirats in Baden-Württemberg gewesen war, verband sich mit einem gewissen Mitgefühl für Scholz, der in der nach links driftenden queer-feministischen Gender-SPD als anachronistischer „Rechtsausleger“ und pragmatischer Ex-Schröderianer ziemlich alleine in der Ecke stand. Ein Außenseiter, fast schon ein Outlaw jener SPD, deren politische Ausrichtung seit geraumer Zeit ein gewisser Kevin Kühnert besorgt, ein 32-jähriger Stu-dienabbrecher und Ex-Juso-Vorsitzender, der am liebsten BMW verstaatlichen würde.

Scholz soll auf dem Parteitag seiner Niederlage sogar ein paar Tränen vergossen haben. Doch Totgesagte leben länger, chronisch Unterschätzte ebenso. Schnell dämmerte dem Duo Esken/Walter-Borjans, dass keiner von ihnen ernsthaft für die Kanzlerkandidatur in Frage käme. So nominierten sie Scholz, der zumindest irgendwie satisfaktionsfähig schien, präsentabel, bekannt aus Funk und Fernsehen, immerhin Vizekanzler und Finanzminister. Ein Helmut Schmidt für Arme, das allerletzte Aufgebot einer ehemaligen Volkspartei. 

Vorbild Schmidt

In einem aktuellen SPD-Wahlspot hört man zu den Bildern eines entschlossen wirkenden Olaf Scholz, wie Helmut Schmidt 1974 im Bundestag den Amtseid ablegt. Ein Jahr später trat Scholz in die SPD ein. Unverkennbar, dass hier eine Traditionslinie gezogen werden soll. „Sicherheit für Deutschland“ – das war eine zentrale Parole des SPD-Wahlkampfs mit Helmut Schmidt 1980. „Kanzler für Sicherheit“ steht heute, 41 Jahre später, neben dem Großporträt von Olaf Scholz.

Armin Laschet, die rheinische Frohnatur, die droht, zur Witzfigur zu werden, erscheint dagegen wie ein unberechenbarer Filou, ein unernstes Weichei ohne erkennbares Profil und ohne klaren Kompass. 

Was die berüchtigt-zynische Berliner Hauptstadtjournaille aber niemals geglaubt hätte: Die gerupfte, ausgemergelte und zerstrittene SPD versammelte sich tatsächlich einmütig hinter ihrem Kandidaten, den sie eigentlich gar nicht gewollt hatte. 

Die SPD hält still – weil sie muss

Wie das gelang? Durch eisernes Schweigen. Psssst, bitte nicht stören! Bloß kein falsches Wort, das die Wahlbürger verschrecken könnte. Die Partei, die ihren Kanzlern Willy Brandt, Helmut Schmidt und Gerhard Schröder – das letzte politische „Alphatier“ überhaupt – das Leben stets so schwer wie möglich gemacht hatte, verhält sich nun mucksmäuschenstill. Manche fragen sich schon mit der Liedzeile der Band „De Randfichten“: „Lebt denn der alte Holzmichl noch?“ Was macht denn bloß der „NoWaBo“? Wo bleiben die linken Querschüsse der neuen Juso-Vorsitzenden Jessica Rosenthal, die noch vor einem Jahr ankündigte: „Ich will den Kapitalismus, der auf Ausbeutung beruht, überwinden.“

Jetzt bloß keine schräge Forderung, keine Provokation, nicht mal eine Revolution im Wasserglas. Stattdessen: Ruhe in der Baracke. Die letzte kleinere Eruption gab es vor Monaten, als der langjährige Bundestagspräsident Wolfgang Thierse die vorgeblich linke „Identitätspolitik“ samt „Cancel Culture“ und Gendersprache kritisiert hatte und von Frau Esken, die sich darob zutiefst „beschämt“ zeigte, heftig gerügt wurde. Nun aber darf Scholz sogar ganz offen die Currywurst verteidigen und das Recht, im Gespräch von Mensch zu Mensch auf Gendersternchen zu verzichten. 

Diese Art politischer „Beinfreiheit“ hatte schon Ex-Kanzlerkandidat Peer Steinbrück 2013 für sich in Anspruch nehmen wollen. Sie wurde ihm, der keinen Pinot Grigio für 5 Euro die Flasche trinken würde, aber nicht gewährt, weil die Partei damals noch nicht komplett am Boden lag wie heute. So hat der „Babyboomer“ Scholz, geboren 1958, als letzter Mohikaner der alten SPD das Glück, die einzig verbliebene Patrone im abgeschabten Gürtel der Partei von Bebel und Lassalle zu sein. Die SPD ist auf ihn angewiesen, auf Gedeih und Verderb. 

Ein „Hoffnungsträger“ der besonderen Sorte, denn eigentlich ist der Volljurist, Partner einer Hamburger Anwaltskanzlei, ein klassischer Parteifunktionär. Von 1982 bis 1988 war er stellvertretender Bundesvorsitzender der Jusos und Anhänger des „Stamokap“-Flügels, der der Deutschen Kommunistischen Partei (DKP) in Sachen Antikapitalismus kaum nachstand. Scholz kritisierte die „aggressiv-imperialistische NATO“ ebenso wie die Bundesrepublik als „europäische Hochburg des Großkapitals“. Vielleicht hätte er diese Haltung bei den Finanzskandalen um die milliardenschweren Betrügereien bei Wirecard und den kriminellen „Cum-Ex“-Geschäften noch einmal reaktivieren sollen – schließlich hatte er von Amts wegen die Finanzaufsicht. Aber er hat es geschafft, den Eindruck zu erwecken, nichts damit zu tun zu haben. Auch hier mag er von Merkel, der er so gerne nachfolgen möchte, gelernt haben. 

Ein klassischer Parteifunktionär

Von 1994 bis 2000 war Scholz Vorsitzender des SPD-Kreisverbandes Hamburg-Altona, anschließend Chef des Hamburger Landesverbandes. Er saß im SPD-Parteivorstand, war von 2002 bis 2004 Generalsekretär und viele Jahre Bundestagsabgeordneter. Von 2007 bis 2009 war er Bundesminister für Arbeit und Soziales, zwischen 2009 und 2019 stellvertretender Bundesvorsitzender der Partei, von 2011 bis 2018 dann Erster Bürgermeister in Hamburg.

Nach dem schmählichen Rücktritt der 100-Tage-Lichtgestalt Martin Schulz Anfang 2018 übernahm er für ein paar Wochen kommissarisch den Parteivorsitz. Im Juni 2019 schlug er zunächst eine Kandidatur für den Parteivorsitz aus, weil dies neben seiner Tätigkeit als Finanzminister „zeitlich nicht zu schaffen“ sei. Angesichts des personellen Angebots auf der Resterampe der SPD, darunter der sozialdemokratische Chefvirologe und Talkshow-Gast aller Klassen, Karl Lauterbach, erinnerte er sich dann aber doch an seine staatsmännische „Verantwortung“ für das Ganze und kandidierte – mit dem bekannten Ergebnis.

Mit Mittelmäßigkeit zum Erfolg

All das ist Schnee von gestern, aber doch erheblich mehr an Lebens- und Berufserfahrung als die grüne Kanzlerkandidatin Annalena Baerbock vorzuweisen hat, die bekanntermaßen „eher vom Völkerrecht“ und vom Trampolinspringen kommt. 

Aus einer tiefenpsychologischen Sozialstudie des Kölner „Rheingold“-Instituts ergibt sich, dass unter den drei Kandidaten der gefühlten Mittelmäßigkeit Scholz als derjenige hervorsticht, der Angela Merkels kühle Nüchternheit fortsetzen würde, was bei der Wählerschaft offenbar als geringste Bedrohung in Zeiten allgemeiner Unsicherheit gilt.

Dazu kommt: Der späte Adept von Helmut Schmidt steht eben auch für jene sozialdemokratische Tradition, bei allen Gerechtigkeits- und Gleichstellungsmaximen des modernen Sozialstaats nicht ganz zu vergessen, woher der Wohlstand eigentlich kommt. Unvergessen jenes Wort, das gemeinhin Karl Schiller zugeschrieben wird, von 1966 bis 1972 Wirtschafts- und Finanzminister. Es war an alle Genossen gerichtet, die als Allheilmittel immer nur die Steuern erhöhen wollten: Man dürfe die Kuh, die man melken wolle, nicht schlachten. Gerade die Deutschen haben die bittere Erfahrung gemacht, dass ökonomischer Niedergang den sozialen, politischen und moralischen nach sich zieht.

So könnte es sein, dass Olaf Scholz versucht, neben der „Sicherheit“ auch noch das christdemokratische Markenzeichen namens Marktwirtschaft und Wirtschaftswunder zu besetzen, natürlich aktualisiert in Zeiten von Digitalisierung, Globalisierung und Klimawandel. Nun, da sich die alten, traditionellen Bindungen an Parteien zunehmend auflösen, zeigt sich, dass Personen und Botschaften, die einigermaßen glaubwürdig vermittelt werden, wichtiger und erfolgreicher sind als Parteiprogramme und ideologische Besserwisserei.

König ohne Land

Obwohl der Ausgang der Bundestagswahl immer noch völlig offen ist, steht jetzt schon fest, dass es keine Volkspartei alten Stils mehr gibt, nachdem nun auch die Union auf den 20-Prozent-Sockel eingeschrumpft ist. Womöglich wird Scholz der erste König ohne Land sein, also ohne eine wirklich starke Partei, der Bundeskanzler wird, wahrscheinlich in einer Koalition mit Grünen und FDP. 

Wie wir die SPD kennen, wird sie am Tag danach das Schweigegelübde brechen und munter drauflos fordern, was das sozialdemokratische Herz begehrt: Eine wunderbare, weltoffene, klimaneutrale, sozial und gendergerechte Welt ohne Diskriminierung mit Wohlstand für alle in einer 30-Stunden-Woche bei vollem Lohnausgleich und offenen Grenzen – Refugees welcome!

Dann braucht Olaf Scholz eine Riesendosis hanseatischer Gelassenheit. Es sei denn, Armin Laschet schafft es doch noch irgendwie, ihm diese Last abzunehmen. Der erste Dreikampf der Kanzlerkandidaten im Fernsehen am vergangenen Sonntag zeigte allerdings: Es sieht nicht danach aus.

Reinhard Mohr war von 1996 bis 2004 Redakteur des „Spiegel“ und bis 2010 Autor von „Spiegel Online“. Vor Kurzem erschien „Deutschland zwischen Größenwahn und Selbstverleugnung. Warum es keine Mitte mehr gibt“ (Europa Verlag, 2021). www.europa-verlag.com