26.04.2024

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Folge 36-21 vom 10. September 2021 / Ortsbesichtigung / Wo das Zentgericht mit dem Tode droht / Ein Ausflug in den südhessischen Odenwaldkreis – Michelstadt fasziniert mit nahezu unberührten mittelalterlichen Bauten

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 36-21 vom 10. September 2021

Ortsbesichtigung
Wo das Zentgericht mit dem Tode droht
Ein Ausflug in den südhessischen Odenwaldkreis – Michelstadt fasziniert mit nahezu unberührten mittelalterlichen Bauten
Bettina Müller

Besucher stehen erst einmal einigermaßen ratlos auf dem Marktplatz von Michelstadt und begutachten das Gebäude mit den spitzen Türmchen und dem hölzernen Unterbau. Touristen aus Übersee bekommen dabei Schnappatmung, weil das ganze Ensemble so unglaublich alt aussieht. Und dann hört man es tuscheln: „Das kann doch nicht echt sein.“ 

Kurzzeitig vermuten die Touristen sogar, dass sie sich eventuell in eine Legoland-Filiale verirrt haben, doch dann lesen sie eine in Stein gemeißelte Zahl in für die Spätgotik typischen arabischen Ziffern auf der Seitenwand: 1484. Ein derart gut erhaltenes Verwaltungsgebäude, eingebettet in ein historisches Gesamtensemble, ist in Deutschland sehr selten, sodass das Michelstädter Rathaus sogar einmal auf einer Briefmarke der Deutschen Bundespost verewigt wurde. 

Das ganze Ambiente des Marktplatzes ist in der Tat außergewöhnlich. Wäre da nicht die Zusammenwürfelung von Baustilen aus verschiedenen Epochen, so könnte man sich im Unterbau auch im Mittelalter wähnen. Marktstände, Tiere, feilschende Menschen, ein Gewusel, Staub und ohrenbetäubender Lärm auf einem abgeschiedenen Marktflecken vor 535 Jahren. Eine sehr ferne Zeit, die man sich heute kaum vorstellen kann, sodass auch das Rathaus wie ein Fremdkörper wirken kann. 

Im Rathaus ging es mit Sicherheit oft sehr ruppig zu, weil dort das Zentgericht im Unterbau tagte. Ganz üble Gesellen, die das Pech hatten, zum Tode verurteilt zu werden, mussten den langen schweren „Centhweg“ gehen, der schnurstracks zum Michelstädter Galgen führte, der etwas außerhalb der Stadtmauer lag. Kurzzeitig sah man im 17. Jahrhundert von dieser Hinrichtungsmethode ab und köpfte die unglücklichen Verbrecher stattdessen. 

Aber es ist nicht nur das berühmte Michelstädter Rathaus, das einen in Staunen versetzt. Nur unweit vom Ortskern entfernt, findet man im Stadtteil Steinbach die nächste Rarität. 

Und wieder glaubt man es kaum. Zwischen 815 und 827 soll sie erbaut worden sein, die Basilika aus der Karolingerzeit, und zwar von Einhard, seines Zeichens Hofgelehrter, Biograph Karls des Großen und zudem Vertrauter von einem gewissen Ludwig dem Frommen. Die Einhardsbasilika ist architektonisch gesehen eine Sensation, denn sie zählt in Deutschland zu den erhaltenen Bauwerken der Karolinger, die man nur noch an einer Hand abzählen kann. Zu ihnen gehört auch die Torhalle des ehemaligen Klosters in Lorsch in Hessen, die seit 1991 zum UNESCO-Weltkulturerbe zählt.

In der Basilika herrschte bis vor Kurzem eine meditative Stille. Fast glaubte man einen Mönchschor im Hintergrund einen Choral singen zu hören, doch es war wohl das unvorstellbare Alter des Bauwerks, das bei Besuchern mit zu viel Phantasie Halluzinationen hervorrufen konnte. Nach dem Lockdown erscheinen die Reisebusse wieder wie eine apokalyptische Vision am Horizont und zerstören jäh die himmlische Ruhe.