18.04.2024

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Folge 37-21 vom 17. September 2021 / Völkerrecht / Leben und Sterben hinter Stacheldraht / Vom bedeutsamen Wandel in der Behandlung der Kriegsgefangenen vom Deutsch-Französischen Krieg über den Ersten bis zum Zweiten Weltkrieg

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 37-21 vom 17. September 2021

Völkerrecht
Leben und Sterben hinter Stacheldraht
Vom bedeutsamen Wandel in der Behandlung der Kriegsgefangenen vom Deutsch-Französischen Krieg über den Ersten bis zum Zweiten Weltkrieg
Ingo von Münch

Für den 1932 geborenen Autor dieses Beitrages gilt das bekannte Bonmot „Zu jung für den letzten Krieg, zu alt für den nächsten Krieg“. Das Elend einer Kriegsgefangenschaft ist mir deshalb als persönliches Erlebnis erspart geblieben. Wer in der Zeit des Zweiten Weltkrieges in Deutschland gelebt hat, kam aber mit diesem Thema unweigerlich in Berührung; denn es gab kaum eine Familie, in der nicht mindestens ein Angehöriger in Kriegsgefangenschaft geraten war oder in der die Angehörigen eines Vermissten auf Gefangenschaft statt Tod hofften oder in der ein loser Kontakt zu fremden Kriegsgefangenen bestand – so meine erste Begegnung: Um die Jahreswende 1944/45 verrichtete eine Gruppe von Gefangenen aus dem zwischenzeitlich verbündeten, nun aber feindlichen Königreich Italien Instandsetzungsarbeiten an einem Sportplatz auf einem Kasernengelände in Potsdam-Eiche. Bewacht wurden die Italiener von einem deutschen Soldaten, den man aufgrund seines Alters als Landsturmmann hätte bezeichnen können. Dank seiner Gutmütigkeit durfte das neugierige Kind die Gefangenenunterkunft betreten, wo die Italiener mich freundlich begrüßten und wo ich mit ihnen – was gewiss damals verboten war – gemeinsam Nudeln aß.

Rheinwiesenlager

Viel weniger fröhlich erlebte ich mein erstes Zusammentreffen mit kriegsgefangenen deutschen Soldaten. Auf der Flucht vor den Russen waren meine Mutter und ich am westlichen Ufer der Elbe in einem Wald gestrandet, in dem Hunderte von den Amerikanern gefangengenommene deutsche Soldaten lagerten. Am folgenden Tag wurden sie in einer langen Kolonne von offenen Lastwagen abtransportiert. Die einzige Chance, als Zivilperson aus dieser abgelegenen Ecke herauszukommen, war ein Platz auf einem der Gefangenentransporter. Meine Mutter und ich versteckten uns also unter den Kriegsgefangenen auf einem der Trucks, wurden aber prompt von einem GI entdeckt. Ein zweiter Versuch auf einem anderen Lastwagen gelang. Bei einem kurzen Stopp nahe Celle sprangen wir ab, ohne dass die Bewacher eingriffen. In Erinnerung ist mir vor allem das Schweigen der deutschen Gefangenen, unter denen wir dicht aneinandergedrängt gestanden haben: Keiner sprach während der ganzen Fahrt auch nur ein Wort. Die deutschen Soldaten hatten vorher den Krieg verloren, nun auch die Sprache – was sollten sie auch sagen auf dieser Tour ins Ungewisse? Wohin die US-Trucks mit den Kriegsgefangenen schließlich gefahren sind, weiß ich nicht – vielleicht oder sogar vermutlich zu den berüchtigten „Rheinwiesenlagern“.

Schmutziger Trick

Unter dieser Bezeichnung werden die 17 von den Amerikanern westlich des Rheins zwischen Büderich und Bad Kreuznach geführten Lager zusammengefasst, in denen mehrere Hunderttausend Gefangene mehrere Monate lang vegetierten. In der Dokumentation des Stadtarchivs der Stadt Rheinberg werden die Lager als „ein einfaches mit Stacheldraht umzäuntes Acker- und Wiesengelände ohne Unterkünfte und sanitäre Einrichtungen“ beschrieben. Die Gefangenen hausten in Erdlöchern, die sie, weil die Benutzung von Spaten verboten war, mit Löffeln und leeren Konservendosen gegraben hatten. Erschwert wurden die Lebensverhältnisse auf den Rheinwiesen durch die damals dort herrschenden Unwetter. Ein ehemaliger Gefangener beschreibt die Situation so: „In einem metertiefen Erdloch, in das wir uns gerade zu zweit setzen konnten, suchten wir Schutz vor den Regengüssen, die wie mit Eimern ausgeschüttet vom Himmel in den Schlamm klatschten … Den Mantel, der vom Wasser schwer geworden war, konnten wir nicht fortwährend hochhalten. Noch tiefer duckten wir uns deshalb in die Grube, die sich immer wieder neu mit Wasser und Schlamm füllte.“ Ein anderer Zeitzeuge berichtet: Es gab keine Baracken, „auch keine Zelte, die Benutzung eigener Zeltplanen war untersagt, es war auch nicht gestattet, aus Mänteln oder anderen Kleidungsstücken Unterschlüpfe zu bauen. Wir lebten von April bis Juni 1945 unter freiem Himmel, im Matsch, bei Kälte und Hitze.“ Über die Zahl der in den Rheinwiesenlagern an Hunger, Erschöpfung und Krankheiten Verstorbenen existieren unterschiedliche Schätzungen. Die von den Amerikanern angegebene Zahl von zirka 20.000 Toten dürfte weit unter der Realität liegen. Fest steht jedenfalls, dass das Martyrium der Rheinwiesenlager nicht den Normen des Völkerrechts über die Behandlung von Kriegsgefangenen entsprach.

Um sich ihrer diesbezüglichen völkerrechtlichen Verpflichtungen zu entledigen, praktizierten die westlichen Siegermächte einen schmutzigen Trick: Sie änderten einfach das Wort „Kriegsgefangene“ – die Amerikaner sprachen nun von „entwaffneten feindlichen Streitkräften“ (Disarmed Enemy Forces, DEF), die Briten von „kapitulierendem feindlichen Personal“ (Surrendered Enemy Personnel, SEP). In der Sache änderte sich durch die Erfindung dieser Worte nichts: Freiheitsentzug und Stacheldraht blieben. Zu Recht – aber erfolglos – forderte das Internationale Komitee vom Roten Kreuz deshalb die Gleichbehandlung mit der üblichen Kategorie der Kriegsgefangenen. Mit der bedingungslosen Kapitulation (unconditional surrender) der Wehrmacht entfiel faktisch für die alliierten Siegermächte die sogenannte Reziprozität, also der Grundsatz „Wie du mir, so ich dir“, aber eigentlich nicht das Gebot der Humanität.

„Feind bleibt Feind“

Bedeutsam ist der Wandel in der Behandlung der Kriegsgefangenen in den letzten 150 Jahren. Kriegsgefangenenlager im heutigen Sinne, so wird gesagt, gibt es eigentlich erst seit der Erfindung des Stacheldrahtes und schnell feuernder Gewehre (Raffael Scheck). Vom Verlauf des Deutsch-Französischen Krieges von 1870/71 wird über die erstmalige Errichtung von Massenlagern berichtet, allerdings auch darüber, dass gefangene französische Offiziere – gegen das Ehrenwort nicht zu flüchten – sich mitsamt ihren Ehefrauen (!) privat einquartieren durften. Die letzten Gefangenen wurden schon im Sommer 1871 entlassen, also nur wenige Monate nach Kriegsende – der Vergleich mit der Rückkehr der letzten deutschen Kriegsgefangenen aus der UdSSR am 16. Januar 1956 (!) drängt sich unweigerlich auf. Zum Verhalten gegenüber den Kriegsgefangenen im Ersten Weltkrieg, dem sogenannten Großen Krieg, kann aus dem 2006 in Essen erschienenen gründlichen Werk von Uta Hinz „Gefangen im Großen Krieg. Kriegsgefangenschaft in Deutschland 1914–1921“ zitiert werden: „Die im Zweiten Weltkrieg öffentlich ausgegebene Weisung – ‚Feind bleibt Feind‘ – galt im Großen Krieg noch nicht.“ Ernst Jünger bestätigt diese Feststellung in seiner Erinnerung an den Kampf mit dem Gegner. „Niemals aber habe ich niedrig von ihm gedacht. Wenn mir später Gefangene in die Hände fielen, fühlte ich mich für ihre Sicherheit verantwortlich und suchte für sie zu tun, was in meinen Kräften stand“, heißt es in seinem Kriegserlebnisbuch „In Stahlgewittern“.

Stalingrad

Während in früheren Kriegen die Gefangenen noch in Festungen oder auf abgetakelten Schiffen untergebracht werden konnten, wurde Kriegsgefangenschaft schon im Ersten Weltkrieg ein Massenproblem. Zwischen acht und neun Millionen Soldaten wurden zwischen 1914 und 1918 von den verschiedenen Kriegführenden gefangengenommen. Im Zweiten Weltkrieg explodierten die Zahlen. Allein 5,7 Millionen russische Soldaten wurden von deutschen Truppen gefangen genommen, von denen 3,3 Millionen in der Gefangenschaft starben. 3,6 Millionen Soldaten der deutschen Wehrmacht gerieten in russische Gefangenschaft, von denen 1,3 Millionen nicht zurückkehrten. Von den rund 90.000 in Stalingrad Gefangengenommenen überlebten nur etwa 8000.

Partisanen

Gefangenschaft hat viele Facetten. Wer Partisanen in die Hände fiel, wurde erbarmungslos getötet. Die Partisanen auf Seiten der Alliierten, in der Sprache der Political Correctness: „Widerstandskämpfer“, machten grundsätzlich keine Gefangenen – ein bisher zu wenig beachteter Beitrag zur Brutalität des Zweiten Weltkriegs. Von Josef Stalin stammt die auf der Konferenz von Teheran 1943 geäußerte Anregung, 50.000 bis 100.000 deutsche Offiziere ohne irgendein Gerichtsverfahren zu erschießen. In dieser Situation versuchte Roosevelt, scheinbar humorvoll zu schlichten, indem er einwarf, man könne sich ja bestimmt auch mit 40.000 Exekutionen zufriedengeben.

Verschieden war die von den deutschen Gefangenen zu leistende Arbeit. Sie reichte von Baumwolle pflücken in den USA und Bäume fällen in Kanada zu Kohle fördern in Bergwerken in Frankreich und Minen räumen in den Niederlanden und anderswo sowie Arbeit in Steinbrüchen in der Sowjetunion. Französische Gefangene in Deutschland arbeiteten häufig auf Gütern und Bauernhöfen. Flüchtlingsfamilien aus Ostpreußen erinnern sich noch heute gern an die Hilfe „ihrer“ Franzosen in der Landwirtschaft und während der Trecks. Verschieden war offenbar nicht nur die Behandlung der Kriegsgefangenen nach Nationalitäten, sondern auch nach Waffengattungen. Zeitzeugenberichte von gefangenen Seeleuten erwähnen eine „gute Behandlung“ – existierte eine Art Corpsgeist der Marine? Im Chaos noch am östlichen Ufer der Elbe sah ich, wie ein Unteroffizier des Heeres sich in eine Pilotenkluft zwängte; gab es vielleicht ein Gerücht, dass Flieger in der Gefangenschaft besser behandelt würden als der normale Landser? Feststeht: Wer wo auch immer in Kriegsgefangenschaft geriet, stand vor der Frage: Überleben oder sterben?

Aktualität des Themas

Was ist die Aktualität des Themas? In Berlin läuft zurzeit im Deutsch-Russischen Museum Berlin-Karlshorst die Ausstellung „Dimensionen eines Verbrechens. Sowjetische Kriegsgefangene im Zweiten Weltkrieg“. So begrüßenswert diese wichtige Veranstaltung mit ihrem umfangreichen Katalog auch ist, so sollte doch die Frage erlaubt sein, ob irgendwann einmal eine Ausstellung über die deutschen Kriegsgefangenen und zur Zwangsarbeit verschleppten Zivilpersonen stattfinden wird. Auch von dem sonst so redseligen Bundespräsidenten hätte man gern mehr als bisher zu dem Schicksal der deutschen Kriegsgefangenen und der deutschen Frauen in Gefangenschaft gehört. Besonders kritische Darstellungen der Behandlung der deutschen Kriegsgefangenen durch die alliierten Gewahrsamsmächte sind interessanterweise vor allem von ausländischen Verfassern, beispielsweise von dem kanadischen Journalisten James Bacque („Der geplante Tod“, 2008) veröffentlicht worden. Ein Gedenken an die deutschen Kriegsgefangenen ist in ihrem eigenen Heimatland offenbar nicht besonders erwünscht – ein merkwürdiges Land, dieses Deutschland.



Prof. Dr. Ingo von Münch ist emeritierter Professor für Staats- und Völkerrecht und war von 1987 bis 1991 Wissenschafts- und Kultursenator sowie Zweiter Bürgermeister der Freien und Hansestadt Hamburg. Der Kulturpreisträger der Landsmannschaft Ostpreußen ist Autor zahlreicher Veröffentlichungen, darunter auch solcher, die sich mit dem Zweiten Weltkrieg sowie der Massenvergewaltigung deutscher Frauen 1944/45 befassen.