20.04.2024

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Folge 38-21 vom 24. September 2021 / EZB-Geldpolitik / Enteignungsgleiche Eingriffe

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 38-21 vom 24. September 2021

EZB-Geldpolitik
Enteignungsgleiche Eingriffe
Wolfgang Müller-Michaelis

Whatever it takes“ war der Kampfruf, mit dem der damalige Präsident Mario Draghi 2012 eine Wende in der Geldpolitik der Europäischen Zentralbank (EZB) einleitete. Hörte sich diese Parole schon damals nicht gerade als Chancen und Risiken abwägende und Stabilität fördernde politische Zielsetzung an, ist ihr Ergebnis nach fünf Jahren zu jenem Desaster gediehen, das Kritiker ihr schon zu Beginn attestiert hatten. Das liegt nicht zuletzt an der Doppelzüngigkeit, mit der diese als Geldpolitik getarnte Hyperintervention in die Kapitalmärkte betrieben wurde: Offiziell mit der Gefahr einer Deflation gerechtfertigt, die bis zum Erreichen einer zweiprozentigen Inflationsrate andauern sollte, tatsächlich aber auf das Ziel gerichtet, eine markante Reduzierung der Zinslasten der überschuldeten Südstaaten der Eurozone zu erreichen.

Nichts offenbart die mangelnde Seriosität der gegenwärtigen EZB-Politik mehr, als dass die Geldschwemme, mit der bisher mehrere Billionen Euro vor allem in die südeuropäischen Märkte gepumpt wurden, stoisch weiterbetrieben wird, nachdem die Inflationsrate der Eurozone im August 2021 nicht nur das Zweiprozentziel, sondern die Dreiprozentmarke erreichte und kundige Bundesbanker eine Steigerung in Richtung fünf Prozent im Herbst für nicht ausgeschlossen halten. Zwar hat der EZB-Rat in seiner letzten Sitzung Anfang September eine Verringerung der Anleihekäufe in Aussicht gestellt, diese dürfte aber in der Höhe eher kosmetischer Natur sein und am Generalziel, die Verschuldungsbereitschaft der Südländer gegenüber dem Sparwillen der Nordstaaten der Eurozone zu bevorteilen, nichts ändern. 

Dass eine derartige verteilungspolitische Zielsetzung nicht zu den Aufgaben einer Notenbank gehört, haben Hans-Werner Sinn und Fachkollegen sowie ganze Bataillone von ehemaligen Bundesbankern seit Jahren wiederholt angemahnt. Eine Gruppe von fünf Professoren, zu denen Gregor Kirchhof und Andreas Rödder gehören, hat dieser Tage dokumentiert, dass die EZB systematisch gegen ein konstitutives Element der Wirtschaftsverfassung der EU verstößt, indem sie dem Artikel 123 des EU-Vertrages, dem Verbot monetärer Staatsfinanzierung, keine Beachtung schenkt. Die Europäische Zentralbank kann so eigenmächtig ihr Mandat verletzend agieren, weil sie als oberste europäische Währungsbehörde in der noch im Aufbau begriffenen europäischen Rechtsgemeinschaft keinerlei demokratischer Kontrolle unterliegt. 

Den Versuch des Bundesverfassungsgerichts, mit seinem „ultra vires“-Urteil vom 5. Mai 2020 andeutungsweise eine derartige Kontrollfunktion auszuüben, indem nach der Verhältnismäßigkeit der unmäßigen Geldpolitik zu den durch sie ausgelösten Kollateralschäden gefragt wurde, konterte die EU-Kommission mit einem Vertragsverletzungsverfahren gegen Deutschland. Dabei haben bereits 2019 acht ehemalige europäische Notenbankgouverneure in einem Memorandum nachgewiesen, dass die Intervention der EZB in die europäischen Geldkreisläufe als marktwidrige und enteignungsgleiche Eingriffe in die Einkommensverteilung der EU-Bürger anzusehen ist. 

Es ist nicht allein der rigorose Geldmengenzuwachs als solcher, der über Staatspapierkäufe erzeugt wurde und den Geldmärkten Null- und Minuszinsen bescherte, der zu nicht hinnehmbaren Einkommenseinbußen der weniger begüterten Teile der Menschen in Europa führt. Die in die EZB-Bilanzen genommenen Schuldpapiere der überschuldeten Staaten in schwindelerregenden Höhen von inzwischen 3,7 Billionen Euro liegen dort nicht einfach so herum, sondern die europäische Notenbank hat die Bürger der Eurozone ungefragt in die Haftung für Kreditausfälle genommen, mit Deutschland als dem bei Weitem größten Anteilseigner und damit größtem Gläubiger der EZB. 

Scholz schweigt

Es ist nicht bekannt, dass sich der für Währungs-, Geld- und Finanzpolitik zuständige deutsche Finanzminister Olaf Scholz zu diesem gewichtigen Vorgang seines Geschäftsbereichs jemals öffentlich geäußert hätte. Kein Wort hat er über die kalte Enteignung von Millionen Kleinsparern in Höhe mehrerer hundert Milliarden Euro verloren, die darüber hinaus seit Jahren empfindliche Einbußen in ihrer Altersversorgung hinnehmen mussten und müssen.

So hat die von Scholz mitgetragene Nullzinspolitik der EZB zu einer beispiellosen Umverteilung „von unten nach oben“ geführt, indem auf der Gegenseite der Wechsel der Großanleger von den Banken an die Börse und in die Immobilienmärkte die Einkommens- und Vermögensschere zwischen Arm und Reich in Europa sich markant weiter öffnete: auf der einen Seite das Hineinpumpen von Billionen an EZB-Geld in die Finanzmärkte, samt Kurssprüngen an den Aktionenmärkte und Feuerwerk bei den Immobilienpreisen – auf der anderen die Enteignung der Kleinsparer, steigende Mieten und eine sich hochschaukelnde Inflation auf den Verbrauchermärkten. Es bleibt das Geheimnis des deutschen Finanzministers und Kanzlerkandidaten der SPD, wie die auf europäischer Ebene mitgetragene Geldpolitik des sozialen Ungleichgewichts mit der im Wahlprogramm seiner Partei genau entgegengesetzten Zielsetzung auf einen Nenner gebracht werden soll.

„Fair Play“ in Wahlkampfzeiten erfordert aber auch den Hinweis, dass es Bundeskanzlerin Angela Merkel 2016 in der Hand gehabt hätte, es zu dieser Zuspitzung auf den europäischen Finanzmärkten mit ihren fatalen sozialen Folgen gar nicht erst kommen zu lassen, wenn sie die ihr damals gegebene Option der Besetzung der EZB-Spitze mit Bundesbankchef Jens Weidmann gezogen hätte. Mindestens dies kann gesagt werden, dass es mit ihm, der dem Ludwig-Erhardschen Credo des Maßhaltens verpflichtet ist, diesen alle Grenzen sprengenden Aufkauf von Staatsschuldpapieren und einen so dauerhaft auf der Null-Linie verbleibenden Zinssatz nicht gegeben hätte. Weidmann wäre von den Vertretern Österreichs, der Niederlande, Belgiens und Lettlands im EZB-Rat in seiner Haltung bestärkt worden, das „Über-die-Verhältnisse-Leben“ der Südeuropäer nicht länger mit dem Aufkauf ihrer Schuldpapiere in dem inzwischen erreichten Ausmaß zu honorieren. 

Warum auch sollten, wie ihnen dies zurzeit zugemutet wird, der deutsche Busfahrer und die holländische Krankenschwester für Schulden haften, deren Ursache maßgeblich in deutlich komfortableren Sozialstandards der Südländer als den eigenen liegen? Mit Rentenhöhen, die eher 80 Prozent als 50 Prozent des Arbeitseinkommens erreichen und mit einem Renteneintrittsalter, das eher bei 60 Jahren als bei den der demographischen Entwicklung geschuldeten 70 Jahren liegt. 

Dass man über diesen Zusammenhang unterschiedlicher Sozialstandards in Europa und geldpolitischer Ansätze der EZB in der Presse so wenig erfährt, ist gerade in Wahlkampfzeiten genauso bedenklich wie die mangelnde Berichterstattung darüber, dass es mit Friedrich Merz wenigstens einen deutschen Spitzenpolitiker gibt, der wiederholt erklärt hat, dass er die EZB-Geld- und Währungspolitik zu einem Schwerpunktthema seines wirtschafts- und finanzpolitischen Programms zu machen beabsichtigt, sofern er in dieser Funktion einer zukünftigen Bundesregierung angehört.

Siehe auch die Analyse auf Seite 7.