20.04.2024

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Folge 38-21 vom 24. September 2021 / Bundesverfassungsericht / Das Verfassungsorgan, dem die Bundesbürger vertrau(t)en / Vor 70 Jahren nahmen die rot gewandeten Hüter des Grundgesetzes in Karlsruhe ihre Arbeit auf

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 38-21 vom 24. September 2021

Bundesverfassungsericht
Das Verfassungsorgan, dem die Bundesbürger vertrau(t)en
Vor 70 Jahren nahmen die rot gewandeten Hüter des Grundgesetzes in Karlsruhe ihre Arbeit auf
Wolfgang Kaufmann

Sicherheitslücken in der Software von Computern und Mobiltelefonen sind Schwachstellen, die sowohl von kriminellen Hackern als auch von staatlichen Stellen ausgenutzt werden können. Deshalb blockieren Letztere die Schließung solcher „Hintertüren“. Dass sie damit die Telekommunikationssicherheit aller Bürger gefährden, nehmen sie billigend in Kauf. 

Um dieser Praxis ein Ende zu setzen, zogen der Chaos Computer Club Stuttgart und die Einkaufsgesellschaft für Internetdienstleister ISP Service eG 2018 vor das Bundesverfassungsgericht (BVerfG). Doch das hat nun die Klage als unzureichend begründet zurückgewiesen. Andererseits verdonnerte Karlsruhe die Bundesregierung jedoch dazu, alsbald zu entscheiden, wie der „Zielkonflikt zwischen dem Schutz informationstechnischer Informationssysteme vor Angriffen Dritter mittels unbekannter IT-Sicherheitslücken einerseits und der Offenhaltung solcher Lücken zur Ermöglichung einer der Gefahrenabwehr dienenden Quellen-Telekommunikationsüberwachung andererseits grundrechtskonform aufzulösen“ sei. 

Novum ohne große Tradition

Dieser Fall zeigt exemplarisch zwei wesentliche Merkmale der Tätigkeit des obersten deutschen Gerichtshofes auf Bundesebene und Hüters des Grundgesetzes. Zum einen muss er sich mit immer neuen Problemlagen von grundsätzlicher verfassungsrechtlicher Relevanz auseinandersetzen. Zum anderen geht er gerne klaren Entscheidungen aus dem Wege. Letzteres resultiert nicht zuletzt aus dem nach wie vor nicht endgültig definierten Selbstverständnis des Bundesverfassungsgerichts, das ein Novum in der deutschen Geschichte ist.

Zwar sprachen bereits das Reichskammergericht und der Reichshofrat ab 1495 beziehungsweise 1518 auch Recht zwischen den Staatsorganen, doch ein echtes Verfassungsgericht gab es erst in der Weimarer Republik mit dem Staatsgerichtshof für das Deutsche Reich. Der besaß allerdings nur eingeschränkte Kompetenzen. Letztlich erstreckte sich seine Zuständigkeit lediglich auf Ministeranklagen und Verfassungsstreitigkeiten auf Reichs-Länder-Ebene. 

Nach dem kompletten Aus für die Verfassungsgerichtsbarkeit während der nationalsozialistischen Diktatur bestand Einigkeit unter den Mitgliedern des Parlamentarischen Rates, den sogenannten Müttern und Vätern des Grundgesetzes, dass nunmehr eine juristische Institution geschaffen werden müsse, die dafür sorge, dass staatliche Machtäußerungen verfassungskonform seien. Daraus resultierte der Artikel 93 im Grundgesetz über die Zuständigkeiten des Bundesverfassungsgerichts, der am 12. März 1951 nach einem relativ langen parlamentarischen Verfahren durch das Bundesverfassungsgerichtsgesetz ergänzt und konkretisiert wurde.

Lehre aus der NS-Zeit

Am 4. Mai 1951 richtete der Bundesjustizminister Thomas Dehler in den Räumen des Bundesgerichtshofes in Karlsruhe eine „Kopfstelle“ für die organisatorischen Vorarbeiten zur Etablierung des Bundesverfassungsgerichts ein. Fünf Monate später, am 7. September 1951, nahm dieses seine Arbeit auf. Die erste Entscheidung der Richter unter dem Vorsitz des vormaligen preußischen Finanzministers Hermann Höpker-Aschoff stammt vom 9. September 1951. Damals urteilte der Zweite Senat über die Neugliederung der Länder Baden, Württemberg-Baden und Württemberg-Hohenzollern, woraufhin die Volksabstimmung über die Gründung eines südwestlichen Bundeslandes zunächst verschoben werden musste. 

Mit einem feierlichen Akt offiziell eröffnet wurde das Bundesverfassungsgericht allerdings erst etwas später. In Anwesenheit des Bundespräsidenten Theodor Heuss und des Ministerpräsidenten des Landes Württemberg-Baden, in dem Karlsruhe damals lag, Reinhold Maier, eröffnete Bundeskanzler Konrad Adenauer am 28. September 1951 das Gericht. Das Datum ging als „Tag der Eröffnung“ in die Annalen des Gerichts ein. 

Meilensteine der Tätigkeit

Den Eröffnungsfeierlichkeiten folgte am 22. November ein erstes Rechtsgutachten für den Bundespräsidenten zum Thema der Mitwirkung des Bundesrats an Steuergesetzen. Als weitere wichtige Meilensteine in der mittlerweile 70-jährigen Geschichte des Bundesverfassungsgerichts gelten die Status-Denkschrift vom 27. Juni 1952, mit der das Gericht seine Stellung als Verfassungsorgan verdeutlichte, das erste Parteiverbotsverfahren, in dessen Verlauf die Sozialistische Reichspartei (SRP) am 23. Oktober 1952 für verfassungswidrig erklärt wurde, das Elfes-Urteil vom 16. Januar 1957, aus dem hervorgeht, dass die Bundesbürger sich mit Verfassungsbeschwerden gegen freiheitsbeschränkende Rechtsnormen zur Wehr setzen können, das Lüth-Urteil vom 15. Januar 1958, das die große Bedeutung der Meinungsfreiheit unterstrich, das Urteil zum Grundlagenvertrag zwischen der Bundesrepublik und der DDR vom 31. Juli 1973, durch das alle Verfassungsorgane den Auftrag erhielten, auf die deutsche Wiedervereinigung hinzuarbeiten, das Urteil über das Volkszählungsgesetz vom 15. Dezember 1983 mit seiner Stärkung des Rechts der Bürger auf informationelle Selbstbestimmung, der Brokdorf-Beschluss vom 14. Mai 1985, der die Wichtigkeit der Versammlungsfreiheit hervorhob, die Bestätigung der Rechtmäßigkeit des Einigungsvertrages vom 23./24. April 1991, das Maastricht-Urteil vom 12. Oktober 1993 über die Legitimität der Verlagerung eigenstaatlicher Kompetenzen an die supranationale Europäische Union sowie das Urteil über die Zulässigkeit der bewaffneten Auslandseinsätze der Bundeswehr vom 12. Juli 1994.

Bislang genoss das Bundesverfassungsgericht stets großes Vertrauen im Volk. In Umfragen rangierte es regelmäßig vor den anderen Staats- und Verfassungsorganen. Ob das in Zukunft so bleiben wird, muss sich zeigen. Immerhin ist die Person des derzeitigen Gerichtspräsidenten Stephan Harbarth ungewöhnlich umstritten. Darüber hinaus schmetterte Karlsruhe 2020/21 zahlreiche Anträge zur Aufhebung von staatlicherseits verordneten Grundrechtseinschränkungen unter dem Vorwand der Corona-Bekämpfung ab. Deshalb titelte die „Neue Zürcher Zeitung“ am 7. September mit Blick auf das Bundesverfassungsgericht: „Vom Gegenspieler der Regierung zu Merkels verlängertem Arm?“





Kurzporträts

Seine 1952 wiederholt öffentlich geäußerte scharfe Kritik am Bundesverfassungsgericht kostete Bundesjustizminister Thomas Dehler 1953 das Amt

Der vormalige enge Mitarbeiter von Theodor Heuss Hermann Höpker-Aschoff war von dessen Gründung bis zu seinem Tode 1954 Präsident des BVerfG 

Stephan Harbarth ist seit vergangenem Jahr Präsident des BVerfG. Vorher war der Christdemokrat als Anwalt tätig und saß von 2009 bis 2018 im Bundestag