28.03.2024

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Folge 40-21 vom 08. Oktober 2021 / Scheitern vor den Augen der Welt / Die deutsche Hauptstadt zwischen Wahlchaos, Verwaltungskollaps und grünem Bullerbü. Die Frage ist, wie lange sich das resignierende Rest-Bürgertum Berlins den Niedergang noch gefallen lassen will

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 40-21 vom 08. Oktober 2021

Scheitern vor den Augen der Welt
Die deutsche Hauptstadt zwischen Wahlchaos, Verwaltungskollaps und grünem Bullerbü. Die Frage ist, wie lange sich das resignierende Rest-Bürgertum Berlins den Niedergang noch gefallen lassen will
Reinhard Mohr

Es war der echte Hilfeschrei einer ehrenamtlichen Wahlhelferin am Rande des Nervenzusammenbruchs: „Liebe Leute, die Wahlzettel sind aus. Im Moment können Sie leider nicht wählen. Wir versuchen, schnellstmöglich welche zu bekommen. Kommen Sie später wieder, aber nicht nach 18 Uhr!“ Da war die Warteschlange in der Nähe des Berliner Kollwitzplatzes, wo man sonntags gerne erst gegen 16 Uhr frühstückt, schon 50 Meter lang. 

Es war 16.30 Uhr, am 26. September 2021, Großkampftag der parlamentarischen Demokratie. Früher zog man sich zu solcher Gelegenheit das beste Hemd an und schritt mit einem gewissen Stolz ins Wahllokal. Man war schließlich der Souverän und entschied über die Zusammensetzung der nächsten Regierung. Heute ist man, jedenfalls in Berlin, schon froh, wenn nach stundenlanger Wartezeit in der 300-Meter-Schlange überhaupt noch die Möglichkeit besteht, seine Kreuzchen zu machen.

Das gelang freilich nicht allen am Tag der Bundestagswahl, zu der in Berlin auch noch die Wahl zum Abgeordnetenhaus und den Bezirksparlamenten kam, obendrauf die Volksabstimmung zur Enteignung von Wohnungsbaugesellschaften. Es waren wohl Tausende, die es nicht mehr in die Wahlkabine schafften. Andere erhielten falsche oder unvollständige Wahlunterlagen, und in einigen Wahlbezirken wurde eine mehr als 100-prozentige Wahlbeteiligung registriert – was bei manchen ferne Erinnerungen an die DDR wachrief. 

Szenen eines Debakels

In Berlin-Wilmersdorf beruhten einige Ergebnisse auf einer „Schätzung“, weil die rechtzeitige Übermittlung der Auszählungsresultate scheiterte. Dafür wurde in anderen Wahllokalen noch bis nach 20 Uhr munter weitergewählt, obwohl längst die ersten Hochrechnungen über die Bildschirme liefen. Dazu kam eine merkwürdige Häufung ungültiger Stimmen. Im Wahllokal 702 an der Antonstraße im Wedding erzielte die Linkspartei bei den Erststimmen für das Abgeordnetenhaus 23, 7 Prozent – bei den Zweitstimmen waren es 0,0 Prozent. Aus Charlottenburg meldete die „B.Z.“ noch eine Woche nach der Wahl: „Tatsächlich kam es im Stimmbezirk 04601 (Wahllokal am Ludwigkirchplatz) offenbar zu Unregelmäßigkeiten. Hier gab es 498 gültige Stimmen, obwohl nur 462 Berliner dort gewählt hatten, also 72 Stimmen zu viel“. Nach „Welt“-Recherchen wurden sogar Minderjährigen die Unterlagen zur Bundestagswahl ausgehändigt – „bedauerliche Einzelfälle“, wie der Leiter des Bezirkswahlamtes Pankow sagte.

Pleiten, Pech und Pannen – selbst die OSZE meldete sich zu Wort – aber die Landeswahlleiterin brauchte mehrere Tage, um ihren Rücktritt anzukündigen. Vom Regierenden Bürgermeister Müller dagegen kein Wort – er hat sich einfach in den neuen Bundestag verdrückt. „Man muss sich in Grund und Boden schämen“, „Es wird Zeit für internationale Wahlbeobachter“: Das waren nur zwei von unzähligen Reaktionen der Bürger auf die skandalösen Zustände in der Stadt, die man eher in anderen Weltregionen vermuten würde.  „Es geht nicht um Manipulationen, sondern um den ganz normalen Schlendrian der unfassbar provinziellen Berliner Verwaltung“, sagte der Satiriker Martin Sonneborn von der „Partei“ ausnahmsweise einmal ganz im Ernst und kündigte eine Wahlprüfungsbeschwerde an. 

Während die Juristen noch die Chancen einer Wahlwiederholung abwägen, ist für ortskundige Polit-Ethnologen längst klar: „Dit is Berlin“, verschärft durch ein rot-rot-grünes Regime, dem Unisex-Toiletten, Gendersternchen und die politisch-korrekte Umbenennung von Straßennamen wichtiger sind als eine funktionierende Verwaltung. Charakteristisch für diese ideologiegetriebene Politik ist eine Mischung aus Größenwahn und Borniertheit, verantwortungsloser Wurschtigkeit und einer breitbeinigen Provinzialität, die sich das ideologische Mäntelchen von Klimaneutralität, Nachhaltigkeit und Diversität umgehängt hat. 

Kein Zufall, dass ein Werbesong für die Berliner Verkehrsbetriebe mit dem Refrain „Is’ mir egal“ zur „Kult-Hymne“ wurde. „Toleranz“ ist weithin zu einer schmerzfreien Gleichgültigkeit gegenüber einer Wirklichkeit verkommen, deren Probleme einfach schulterzuckend hingenommen werden. Motto: Kannste nüscht machen! In den klassischen Worten der linksautonomen Szene: Legal, illegal, scheißegal.

Träume im Pippi-Langstrumpf-Milieu

Ein Paradebeispiel dieser chronischen Berliner Indolenz ist der seit Jahren ausufernde Drogenhandel im Görlitzer Park. Anwohner, darunter Grünen-Sympathisanten und türkische Gewerbetreibende, die gegen die massiven Belästigungen und die milieuübliche Kriminalität bis hin zum Totschlag protestieren, werden als „Rassisten“ beschimpft. Der machtlosen Polizei wirft man „Racial Profiling“ vor, wenn sie schwarze Dealer kontrolliert, die eben allesamt aus schwarzafrikanischen Ländern kommen. Doch allein das Gütesiegel „Migrant“ legt einen ideologischen Cordon sanitaire um Zustände, die man sonst keinesfalls, schon gar nicht im Rest der Republik tolerieren würde.

Dass die grüne Kandidatin für das Amt der Regierenden Bürgermeisterin ohne jede Ironie mit der Parole „Mehr Bullerbü für Berlin!“ um Wählerstimmen geworben hat, steht für das Pippi-Langstrumpf-Hafte des Berliner Polit-Milieus insgesamt – für die Infantilisierung dessen, was in der 28 Jahre geteilten deutschen Hauptstadt einmal Politik war, von Ernst Reuter bis Willy Brandt, von Richard von Weizsäcker bis Eberhard Diepgen.

„Ich mach’ mir die Welt, wie sie mir gefällt“ – diese Kinder-Logik steht nicht nur für Unernst und Realitätsverlust der Regierenden, sondern auch für die völlige Abwesenheit eines historischen Bewusstseins von der über Jahrhunderte gewachsenen Stadtgesellschaft. Schon die Lektüre der Romane von Theodor Fontane würde hier jenen Parteisoldatinnen einigen Aufschluss geben, deren einzige Lektüre offenkundig in Klimastudien und Parteiprogrammen besteht.

Eine besondere Spezialität der Berliner Verhältnisse aber ist, dass selbst inständige, mehrheitsfähige Klagen über den Verfall der Infrastruktur und die völlige Überforderung einer Verwaltung, in der, allen schönen Reden zum Trotz, Digitalisierung immer noch eher politpoetisch als tatpraktisch aufgefasst wird, nicht dazu führen, dass die verantwortlichen Parteien, die die unbeliebteste Landesregierung der Republik bilden, in die Opposition geschickt werden. 

Im Gegenteil: Sie werden unverdrossen wiedergewählt, komme, was da wolle. Auch das linke Volksbegehren zur Enteignung größerer Wohnungsbaugesellschaften fand eine satte Mehrheit von 56,4 Prozent. Die historisch einschlägigen Erfahrungen mit einer verstaatlichten Wohnungswirtschaft wie in der DDR – man erinnere sich an die rußschwarze Ruinenlandschaft in Ost-Berlin 1989 – wirken offenbar nicht mehr abschreckend.

Scheitern ohne Konsequenzen

Und in Kreuzberg, dem seismologischen Urgrund aller verwelkten linken Utopien Marke West, haben die Grünen ein Dauerabonnement auf mehr als 30 Prozent der Stimmen. Daran ändert weder eine katastrophale Bildungspolitik etwas noch millionenteure Umbauten des Straßenraums, die nichts weiter sind als teure Symbolpolitik für die Generation Lastenfahrrad. 

So ist seit knapp einem Jahr der zentrale Teil der Berliner Friedrichstraße, einst legendärer Boulevard der turbulenten „Goldenen Zwanziger Jahre“, „verkehrsberuhigt“, also autofrei. Das Ergebnis ist so niederschmetternd, dass es in der Öffentlichkeit kaum ausgesprochen, schon gar nicht diskutiert wird: ein Desaster. Die Umsatzzahlen der Geschäfte haben sich teils halbiert, die Zahl der Passanten ist deutlich gesunken, und die Atmosphäre ähnelt einer im Bau befindlichen Fußgängerzone in Wanne-Eickel.

Die Friedrichstraße, die sich nach dem Mauerfall wieder zu einer lebendigen Einkaufs- und Flaniermeile entwickelt hatte, wirkt nun wie eine Mischung aus Fahrrad-Rennstrecke, Kinderhüpfburg und Bretterbuden-Dauerausstellung, durchzogen von hässlichen, grellgelben Streifen und weiß-roten Absperrungsbaken, die auch die Seitenstraßen in urbane Todeszonen verwandeln. Für das große Ziel einer „Klimaneutralität“ bringt das alles natürlich rein gar nichts.

Aber so sieht sie aus, die rot-rot-grüne Utopie von der autofreien Stadt: Tristesse royale. Sie ist nicht zuletzt eine ästhetische Katastrophe und repräsentiert eine naiv-romantische-Weltsicht frei nach Astrid Lindgren, eben „Bullerbü“, irgendwie „hygge“, kuschelig und gemütlich, weit weg von allen bösen Mächten, jenseits aller Konflikte. 

Eine Puppenstube, in der es keine kriminellen Clans gibt und die Tatsache erst gar nicht zur Kenntnis genommen wird, dass mehr als ein Drittel der türkischstämmigen Bevölkerung ab 15 Jahren über keinerlei Schul- oder Berufsabschluss verfügt und ein weiteres Drittel allenfalls die Hauptschule absolviert hat. Die Auseinandersetzung darüber, was das für Integration, Fachkräftemangel, Rentensystem und das kulturelle Fundament der Demokratie heißt, wird in Berlin konsequent verweigert. 

Die Schwäche des Bürgertums

Dazu trägt freilich auch die eklatante Schwäche der liberal-konservativen Mitte in der alten Hauptstadt Preußens bei, jenes Rest-Bürgertums, dem die Stadt mehr bedeutet als die Summe aller Grünstreifen, Tempo-30-Zonen und Diversitätsquoten bei Polizei und Feuerwehr. Dass die Stadt seit der europäischen Renaissance immer auch ein Ort der Freiheit – und des Kampfes um sie – war, ist all jenen gar nicht mehr bewusst, für die Urbanität nur noch ein Wimmelbild voller bunter Szenen und Figuren ist, ähnlich wie bei der Spielzeugeisenbahn der Kindheit.

 Am Ende könnten das unglaubliche Wahlchaos und die geballte Inkompetenz des rot-rot-grünen Senats jedoch auch ihr Gutes haben, öffnen sie doch eine zarte Perspektive auf eine wirkliche politische Wende, die die Farben Schwarz-Rot-Gold, genauer: Rot-Schwarz-Gelb tragen würde. Auch wenn die voraussichtlich neue Regierende Bürgermeisterin Franziska Giffey mit dem Makel ihrer Doktorarbeit behaftet ist, die mit Plagiaten gespickt war, so könnte sie doch den Weg zu einer neuen Konstellation der politischen Mitte öffnen, der Berlin zu wünschen wäre: Weg von der rot-grünen Ideologie – hin zu einer Politik, die die Bürger wieder ernst nimmt und sich den wahren Problemen der Stadt zuwendet. 

Die fangen allerdings nicht erst in der Warteschlange vor dem Wahllokal an.

Reinhard Mohr war von 1996 bis 2004 Redakteur des „Spiegel“ und bis 2010 Autor von „Spiegel Online“. Im Sommer 2021 erschien „Deutschland zwischen Größenwahn und Selbstverleugnung. Warum es keine Mitte mehr gibt“ (Europa Verlag, 2021).

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