16.04.2024

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Folge 40-21 vom 08. Oktober 2021 / Rudolf Virchow / Mediziner und homo politicus / Der vor 200 Jahren geborene Pommer verkörperte bereits im 19. Jahrhundert Interdisziplinarität

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 40-21 vom 08. Oktober 2021

Rudolf Virchow
Mediziner und homo politicus
Der vor 200 Jahren geborene Pommer verkörperte bereits im 19. Jahrhundert Interdisziplinarität

Preußen hat manche bedeutende Mediziner hervorgebracht sowie diverse wichtige homines politici (politische Menschen), sprich Politiker und Politikwissenschaftler, aber nur einen Rudolf Virchow. Der vor 200 Jahren in Schivelbein in Hinterpommern geborene Preuße war beides. Als Mediziner erlangte er Weltruf, als Politiker wurde er zum ebenbürtigen linksliberalen Gegenspieler Otto von Bismarcks, der ihn sogar zum Duell forderte. 

In seiner Person verkörperte Virchow in hervorragender Weise die heute so gerne eingeforderte Interdisziplinarität. Christian Andree, Herausgeber von Virchows Gesamtausgabe, formulierte es wie folgt: „Virchow hat vorgelebt, dass, um den Menschen zu erkennen, man den geistes- wie den naturwissenschaftlichen Weg einschlagen muss.“ 

Einerseits übertrug der Begründer der Zellularpathologie sein politikwissenschaftliches Wissen auf den Menschen, wenn er den Körper als einen „Zellenstaat“ interpretierte, in dem die einzelnen Zellen verschiedene Aufgaben hätten. Diese Interpretation des Körpers als Staat ist bemerkenswert, da den Deutschen im Allgemeinen und den Preußen im Besonderen traditionell eher der gegenteilige Vorwurf gemacht wird, dass sie den Staat nicht nüchtern, rational als Organisationsform der Gesellschaft, sondern romantisch als etwas Menschliches, ja Göttliches verklären, ihn als Wesen verstehen, wie es beispielsweise in der Verwendung des Begriffs „Staatsorgan“ zum Ausdruck kommt. 

Andererseits leitete Virchow aus seinen medizinischen Erkenntnissen und Erfahrungen politische Forderungen ab, wurde zum Sozialpolitiker. So forderte der Begründer der modernen Sozialhygiene mehr Gesundheitsfürsorge und -prävention des Staates. 

Das interdisziplinare Denken dieses Mediziners und homo politicus in einer Person zeigen sehr schön seine Überzeugungen, dass die Medizin eine soziale Wissenschaft sei und die Politik wiederum Medizin im Großen. 

Nach einem steilen beruflichen Aufstieg trotz suboptimaler wirtschaftlicher Voraussetzungen wurde Virchow Anfang 1848 und damit kurz vor Ausbruch der Märzrevolution von der preußischen Regierung nach Oberschlesien entsandt, um die dort grassierende Hungertyphus-Epidemie zu untersuchen. Die dort gemachten Erfahrungen mit Armut als Krankheitsursache ließen ihn zu der Erkenntnis kommen, dass der Arzt der natürliche Anwalt der Armen sei. Entsprechend engagierte er sich in der 48er Revolution. 

Die Revolution scheiterte, und Virchow emigrierte nach Bayern. Ende 1849 nahm er einen Ruf auf den Lehrstuhl für Patholgische Anatomie an der Universität Würzburg an. Hinsichtlich seiner wissenschaftlichen Publikationstätigkeit begann Virchows produktivste Zeit. Er läutete das eigentliche mikroskopische Zeitalter der Pathologie ein. 

Langfristig konnte den Aufstieg des medizinischen Ausnahmetalents in Preußen weder seine soziale Herkunft noch sein politisches Engagement stoppen. 1856 schuf die Universität Berlin extra eine neue Professur, damit er dort seine pathologische Arbeit fortsetzte. Zwei Jahre später erschien mit „Die Cellularpathologie in ihrer Begründung auf physiologische und pathologische Gewebelehre“ Virchows Hauptschrift zu der von ihm entwickelten Lehre, der zufolge alle Krankheitszustände des Organismus auf krankhafte Veränderungen der Körperzellen zurückgeführt werden könnten.

Neben seiner medizinischen Tätigkeit saß der Mitbegründer der Deutschen Fortschrittspartei und der Deutschen Freisinnigen Partei ab 1859 in der Berliner Stadtverordnetenversammlung, 1862 bis 1867 im Preußischen Abgeordnetenhaus und 1880 bis 1893 im Reichstag. Dabei engagierte sich der Linksliberale im weitesten Sinne sozial- und gesundheitspolitisch.

Außer mit Medizin und Politik beschäftigte sich der vielseitig interessierte Geist zum Teil auf hohem Niveau mit Landesgeschichte, Anthropologie, Ethnologie und Archäologie. Virchow starb am 5. September 1902 in Berlin an den Folgen eines missglückten Absprungs von einer noch fahrenden Straßenbahn.

M.R.