29.03.2024

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Folge 40-21 vom 08. Oktober 2021 / „Kaiserdämmerung“ / Wenn das Differenzieren zum Wagnis wird / Der Historiker Rainer F. Schmidt widerspricht in seinem neuen Buch der gängigen Verdammung des Kaiserreiches, wie sie der Bundespräsident und Fritz-Fischer-Schüler vertreten

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 40-21 vom 08. Oktober 2021

„Kaiserdämmerung“
Wenn das Differenzieren zum Wagnis wird
Der Historiker Rainer F. Schmidt widerspricht in seinem neuen Buch der gängigen Verdammung des Kaiserreiches, wie sie der Bundespräsident und Fritz-Fischer-Schüler vertreten
Wolfgang Kaufmann

Rainer F. Schmidt war bis vor Kurzem Professor für Neueste Geschichte und Didaktik der Geschichte an der Universität Würzburg. Nun ist von ihm ein 880 Seiten umfassendes Werk mit dem Titel „Kaiserdämmerung“ erschienen. Es handelt vom Aufstieg und Untergang des deutschen Kaiserreiches und berücksichtigt auch die gesamteuropäische Situation zwischen 1871 und 1918. 

In dem Buch charakterisiert Schmidt den wilhelminischen Staat als ausgesprochen janusköpfig: „Auf der einen Seite eine hochinnovative Industriegesellschaft, ein moderner Interventions- und Sozialstaat, der die Wurzeln für unseren Wohlfahrtsstaat legt, eine frei pulsierende Gesellschaft, und eben auch das weltweit freieste und korrekteste Wahlrecht … Auf der anderen Seite bestehen aber vormoderne, ja fast verkrustete Strukturen fort, von traditionellen Eliten in Staat und Gesellschaft, Adel, Militär, hoher Beamtenschaft, die … in einer Art von Belagerungs- und Bollwerksmentalität ihre Vorherrschaft im Staat mit Zähnen und Klauen verteidigen.“ 

Gleiches gelte für den deutschen Kolonialismus. Der hatte laut Schmidt „auch zwei Seiten. Die eine, die sehr stark in der öffentlichen Wahrnehmung ist, ist die Entrechtung und die Ausbeutung der indigenen Bevölkerung. Aber auf der anderen Seite errichtet man Schulen und Bildungsanstalten, man baut eine Verkehrsinfrastruktur, man gründet Krankenhäuser, man schafft Erwerbsmöglichkeiten, Wasser, Stromversorgung, Bergbauprojekte.“

Dominanz der Fischer-Schüler

Zu Schmidts differenzierter Herangehensweise gehört auch, der 1961 von dem Hamburger Historiker Fritz Fischer in die Welt gesetzten These von der Hauptschuld des deutschen Kaiserreiches am Ersten Weltkrieg zu widersprechen und auf die ebenfalls höchst destabilisierende Rolle Frankreichs, Russlands und Großbritanniens hinzuweisen: „Keine der beteiligten Mächte wirkte deeskalierend. Keine einzige Macht wollte den Krieg verhindern oder diesem aus dem Wege gehen … Es war mithin nicht nur Berlin, das in der Vorkriegszeit seine machtpolitischen Ansprüche über das gesamteuropäische Interesse und den internationalen Ausgleich stellte.“ Andererseits hätte das wilhelminische Deutschland den großen Konflikt aber wohl am ehesten im Ansatz beilegen können. Dazu sei es jedoch aus Mangel an geeigneten Protagonisten auf außenpolitischem Gebiet nicht gekommen.

Obwohl Schmidt also keineswegs versucht, das Kaiserreich nur positiv darzustellen und so von allen Vorwürfen reinzuwaschen, dürfte sein Werk eine neue Runde in der Debatte über die Natur des Hohenzollern-Staates auslösen und auf vielfältige Kritik stoßen. Denn in Fischers Fußstapfen traten andere wirkmächtige Historiker wie Hans-Ulrich Wehler, Heinrich August Winkler, Wolfram Wette und Eckart Conze, die heute immer noch über weite Strecken die herrschende Sicht auf das Kaiserreich bestimmen. 

Hetze eines Anonymus

Zu welch harten Bandagen Schmidt-Gegner dabei greifen können, zeigt die Reaktion auf den Beitrag „,Revanche pour Sedan‘ – Frankreich und der Schlieffenplan. Militärische und bündnispolitische Vorbereitung des Ersten Weltkriegs“ im Heft 2 der „Historischen Zeitschrift“ von 2016. Darin gab Schmidt einen Vorgeschmack auf seine Ausführungen in „Kaiserdämmerung“ und konstatierte auf breiter Quellenbasis, dass der französische Premierminister und Staatspräsident Raymond Poincaré „eine Kriegsvorbereitungs- und Erpressungspolitik gegenüber Berlin“ betrieben und sich somit der „indirekten Kriegsentfesselung“ schuldig gemacht habe. 

Als Replik hierauf veröffentlichte die ansonsten eigentlich seriöse „Historische Zeitschrift“ im krassen Widerspruch zu allen wissenschaftlichen Gepflogenheiten den hochpolemischen Text „Die deutsche Legende vom ‚aufgezwungenen Verteidigungskrieg‘ 1914“, für den vorgeblich ein „Robert C. Moore“ verantwortlich zeichnete, der gar nicht existiert. Darin hieß es, „dass die Interpretation Schmidts Ausdruck einer Welle neorevisionistischer Literatur ist, die die Verantwortung für die Auslösung des Krieges auf die Entente schieben möchte, was aber den tatsächlichen Ereignissen zuwiderläuft.“ Gleichzeitig hetzte der Anonymus auf grobschlächtige Weise gegen Schmidt und versuchte, diesen mit aller Gewalt persönlich wie fachlich zu diskreditieren.

Nicht auf diesem primitiven Niveau, aber inhaltlich ganz ähnlich argumentierte der Schmidt-Widerpart Eckart Conze in seinem Werk „Schatten des Kaiserreichs. Die Reichsgründung von 1871 und ihr schwieriges Erbe“, das vergangenes Jahr erschien. Der Marburger Historiker wandte sich gegen jegliche „Weichzeichnung“ des wilhelminischen Systems und bezeichnete dieses als „Kriegsgeburt“. Danach zog er noch eine ganz direkte Kontinuitätslinie von den beiden Wilhelms bis zu den Nationalsozialisten. Und genau diese Interpretationsweise vertrat dann auch Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier (SPD) in seinen Ausführungen anlässlich des 150. Jahrestages der Reichsgründung vom 13. Januar dieses Jahres: Es gebe eine „Heerstraße, die alle Kriege von 1871 bis 1945 verbindet“. 

Kluger Schachzug

Angesichts dieser quasi offiziellen Verlautbarung des deutschen Staatsoberhauptes und des derzeitigen gesellschaftlichen Klimas in der Bundesrepublik dürften sich die Befürchtungen von Sven Felix Kellerhoff von der „Welt“ höchstwahrscheinlich bewahrheiten, dass es in der „Deutungsschlacht ums Kaiserreich“ nun bald weitere „Beschimpfungen, Unterstellungen und Pauschalurteile“ zulasten Schmidts geben werde. Angeblich sollen schon neue Polemiken à la „Robert C. Moore“ zum Abdruck bereitliegen. 

Es bleibt abzuwarten, ob der Autor von „Kaiserdämmerung“ diese Empörungswelle allein durchstehen muss oder ob er Rückendeckung von anderen „Revisionisten“ erhält. Auf jeden Fall war es ein kluger Schachzug von Schmidt, mit der Veröffentlichung bis nach der Emeritierung zu warten, sodass ihm nun keine Störung seiner Vorlesungen durch linksradikale Schreihälse im Hörsaal droht. Andererseits lässt es aber auch tief blicken, dass Lehrstuhlinhaber sich hierzulande zunehmend erst im Ruhestand aus der Deckung wagen, wenn es um sogenannte „heikle“ Themen geht.





Kurzporträts

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Eckart Conze lehrt seit 2003 als Professor für Neuere und Neueste Geschichte am Seminar für Neuere Geschichte der Philipps-Universität Marburg