26.04.2024

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Folge 42-21 vom 22. Oktober 2021 / DDR / Im Schatten der Staatssicherheit / Wie sich die Deutsche Volkspolizei an der Bespitzelung der Mitteldeutschen beteiligte

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 42-21 vom 22. Oktober 2021

DDR
Im Schatten der Staatssicherheit
Wie sich die Deutsche Volkspolizei an der Bespitzelung der Mitteldeutschen beteiligte
Heidrun Budde

Inoffizielle Mitarbeiter (IM) der Staatssicherheit bespitzelten die Bürger, das ist bekannt. Doch darin erschöpfte sich die heimliche Zuträgerschaft im SED-Staat nicht, wie uns heute die noch vorhandenen Restakten aufzeigen.

Am 16. Februar 1988 kam Reinhard L. zur Abteilung Pass- und Meldewesen (PM) der Deutschen Volkspolizei (DVP), ohne dass er darum gebeten wurde. Dieser Mann war über eine genehmigte Westreise seiner Nichte E. zur Großmutter verärgert. Er bezweifelte das ärztliche Attest über eine lebensbedrohliche Krankheit. In einer Niederschrift ist zu lesen: „Herr L. teilte mit, daß er aus einem kürzlich erhaltenen Brief erfuhr, daß es seiner Mutter gesundheitlich recht gut geht. Auch kenne er die Ärzte, die seine Mutter behandeln und diese wiederum seine Anschrift, um im Ernstfall zu informieren. Nach seinen Angaben hat die Mutter auch dieses Attest nicht besorgt und geschickt … Er vermutet weiter, daß die E. auch nicht zur Mutter/Großmutter gereist ist, sondern zu anderen, ihm nicht bekannten Personen. Vor ca. zwei Jahren nahm die E. an einer Jugendtouristikreise nach Zypern teil, von der zwei weibliche Bürger nicht wieder in die DDR zurückgekehrt sind. Sie habe dieses ungesetzliche Verlassen damals gutgeheißen, und Herr L. vermutet, daß die E. mit diesen in Verbindung steht … Herr L. möchte, daß in ehrlicher Absicht gereist wird und distanziert sich von solchen Machenschaften. Er bittet diese Hinweise im Rahmen der Arbeit der DVP zu beachten.“

Der Denunziant L. ging nicht zur Staatssicherheit, sondern zur Polizei, weil dort die Reiseanträge gestellt und bearbeitet wurden. Die Mitarbeiter der Abteilung Pass- und Meldewesen hatten diverse politisch brisante Überprüfungsaufträge, die nicht öffentlich bekannt waren. Sie mussten kontrollieren, ob die DDR-Bewohner, die in den Westen reisen wollten, „absolut politisch zuverlässig“ waren, und sie überprüften auch Einreisegenehmigungen für Bundesbürger. Daneben führten sie „Personenkontrollakten“ für Ausländer, die sich befristet oder unbefristet in der DDR aufhielten, unabhängig davon, ob diese Personen strafrechtlich in Erscheinung getreten waren.

Statt zur Stasi zur Polizei

Die Polizei verfügte zur Absicherung der angeordneten heimlichen Überprüfungen über ein eigenes Spitzelnetz, das ganz ähnlich wie beim Geheimdienst funktionierte und das juristisch nicht legitimiert war. Der Innenminister regelte in der Dienstvorschrift (DV) Nr. 31/80 vom 3. April 1980 („Vertrauliche Verschlußsache I 080015“) Vorgaben für die sogenannte operative Personenkontrolle, die allein aus politischen Gründen, beispielsweise bei unterstellten Absichten auf eine „Republikflucht“, bei wiederholt gestellten Ausreiseanträgen, bei Kontakten zu westlichen Organisationen oder bei engen Beziehungen zu Westbürgern angeordnet wurde.

Die Polizei arbeitete Hand in Hand mit der Staatssicherheit: „Der Leiter der Kriminalpolizei ordnet nach Abstimmung mit der zuständigen Dienststelle des Ministeriums für Staatssicherheit mit einer Verfügung KP 31 die Kontrolle … an. … Als Kontrollbeauftragte sind Kriminalisten und ABV einzusetzen.“ Der ABV (Abschnittsbevollmächtigter) war der zuständige Polizist für ein Wohngebiet, der sich ein gut funktionierendes „Spinnennetz“ an Zuträgern aufbaute. Das waren Nachbarn, Arbeitskollegen, Kneipenwirte und Hausbuchbeauftragte. In der DV Nr. 31/80 ist zu lesen: „Zur Durchführung der Kontrolle sind insbesondere folgende Kontrollmaßnahmen anzuwenden: … Mithilfe freiwilliger Helfer der Deutschen Volkspolizei und Einbeziehung anderer Personen, insbesondere die Gewinnung von Auskunftspersonen. An die Auswahl und Einbeziehung der freiwilligen Helfer der DVP u. a. Auskunftspersonen in die operative Kontrolle sind besondere Anforderungen hinsichtlich der Zuverlässigkeit und Verschwiegenheit zu stellen, um die Geheimhaltung dieser Kontrollart zu sichern.“

Wie absurd diese heimlichen Bespitzelungen der Bürger durch die Polizei waren, zeigt die „Personenkontrollakte“ von Berta K. auf, die 1892 geboren wurde. 1916 erwarb sie durch Heirat die Schweizer Staatsbürgerschaft. Der Ehemann starb 1946. Aufgrund ihrer Staatsbürgerschaft konnte Frau K. jederzeit Besuchsreisen in den Westen unternehmen, was tiefes Misstrauen hervorrief. Ab 1955 wurden kontinuierlich Ermittlungsberichte erstellt, obwohl sie ein völlig unauffälliges Leben führte. Was die Volkspolizisten „ermittelten“, ist beispielsweise in einem Bericht vom 27. November 1967 so zu lesen: „Genannte lebte bis 1962 mit einem Karl ... zusammen, der sich in diesem Jahr das Leben nahm. Frau K. verkehrt und unterhält mit einem gewissen Alfred ... wohnhaft T. ... enge Bindungen … G. besitzt einen PKW Trabant, mit dem er an Sonntagen gemeinsam mit Frau K. Ausflüge nach Rostock ... und anderen Städten unternimmt … M. hat vor ca. einem halben Jahr die Wohnung der K. renoviert. Als Leistung für seine Arbeiten erhält er Sachen von Frau K., die sie von ihren Auslandsreisen (Reisen nach der Schweiz über WD) mitgebracht hat.“

ABV schneller als die Stasi

Wer einem Mitbürger schaden wollte, musste dem ABV nur seine Boshaftigkeiten ins Ohr flüstern, und er konnte sicher sein, nicht erkannt zu werden. Die Folgen waren für die Betroffenen mitunter drastisch. So ergibt sich aus einer Akte über den Ausreiseantrag eines Ehepaares mit zwei Kindern, dass der ABV mit seinen Bespitzelungen in der Nachbarschaft schneller war als die Staatssicherheit: „Beim Aufsuchen der Auskunftsperson wurde festgestellt, daß der Ermittler nach dem … ABV des Wohngebiets … der Dritte war, der in wenigen Tagen zum erwähnten Objekt eine Ermittlung durchführte. … Aus konspirativen Gründen wurde die Wohngebietsermittlung abgebrochen.“

Obwohl sich dieses Ehepaar vollkommen gesetzeskonform verhielt, wurde es verhaftet und zu Freiheitsstrafen von über einem Jahr verurteilt. Das war die Voraussetzung für den „Freikauf“ gegen Westgeld, der nach monatelanger Haft durchgeführt wurde. Die Suche nach der Personenkontrollakte der Polizei, die es für dieses Ehepaar gegeben haben muss, war erfolglos. Der Präsident des Polizeipräsidiums Potsdam teilte mit, dass im Laufe der 90er Jahre „Vorgänge ohne historische Relevanz vernichtet wurden“.

Als der SED-Staat zusammenbrach, konzentrierte sich alles auf die Spitzel der Staatssicherheit. Die „operative Personenkontrolle“ der Polizei wurde gar nicht thematisiert, und so konnten belastende Dokumente in Ruhe vernichtet werden. Das ganze Ausmaß der heimlichen Observierungen bleibt im Verborgenen. 

Ein Schuldbewusstsein ist bei den ehemaligen Volkspolizisten nicht anzutreffen, denn das Denunziantentum erlebt heute, 32 Jahre nach dem Untergang der DDR, eine perfektionierte Wiederauferstehung. Es genügt ein Klick im Internet, und jeder kann seine Boshaftigkeiten anonym loswerden, alles gesponsert vom Steuerzahler und scheinheilig gerechtfertigt.

Bei diktaturerfahrenen ehemaligen DDR-Bewohnern löst diese Vorgehensweise bedrückende Erinnerungen aus. Sie erkennen die Parallelen und fragen sich, welche Entwicklung dieses vereinigte Deutschland nimmt. Ein Staat, der seine Macht nur mit Hilfe von Denunzianten erhalten kann, delegitimiert sich selbst.