25.04.2024

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Folge 43-21 vom 29. Oktober 2021 / Jubiläum / Impfempfehlung gegen Einfalt / „Geburtsstunde der österreichischen Nachkriegsliteratur“ – Vor 100 Jahren wurde Ilse Aichinger geboren

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 43-21 vom 29. Oktober 2021

Jubiläum
Impfempfehlung gegen Einfalt
„Geburtsstunde der österreichischen Nachkriegsliteratur“ – Vor 100 Jahren wurde Ilse Aichinger geboren
Harald Tews

„Weinen Sie nicht! Sie sollen nur geimpft werden. Sie sollen ein Serum bekommen, damit sie das nächste Mal um so widerstandsfähiger sind!“ Was wie ein aktueller Aufruf von Politikern zu Covid-Impfungen klingt, ist einem Text von 1946 entnommen. Kurz nach dem Krieg empfahl die junge österreichische Autorin Ilse Aichinger, sich gegen zu große Einfalt immunisieren zu lassen. 

„Sich selbst müssen Sie mißtrauen“, schrieb sie in Ihrem Essay „Aufruf zum Mißtrauen“: „Der Klarheit unserer Gedanken, der Tiefe unserer Gedanken, der Güte unserer Taten! Unserer eigenen Wahrhaftigkeit müssen wir mißtrauen.“ Gemünzt auf heute, da man vieles von oben herab Verordnete widerspruchlos hinnimmt, klingt es dann doch aktueller denn je. Aichingers Appell, totalitäres Denken endgültig zu verbannen und stattdessen kritische Fragen zu stellen, um vertrauenswürdiger zu sein, könnte auch helfen, die heutige gesellschaftliche Spaltung zu überwinden.

Als die am 1. November 1921 in Wien geborene Aichinger ihren Aufruf schrieb, war sie noch gänzlich unbekannt. Doch dann kam zwei Jahre später ihr Roman „Die größere Hoffnung“ heraus, den der Kritiker Hans Weigel als „Geburtsstunde der österreichischen Nachkriegsliteratur“ bezeichnete. Das Thema über rassisch verfolgte Kinder in der NS-Zeit und das Schicksal der Autorin selbst, die in dieser Zeit als Halbjüdin versteckt in Wien lebte, haben dabei sicher als Bonus gedient.

Wer sich Hoffnung auf weitere Romane der Autorin machte, sah sich enttäuscht. Nach „Die größere Hoffnung“ publizierte Aichinger nur noch Kurzprosa, Erzählungen, Hörspiele und Gedichte.  Zu ihrem 70. Geburtstag im Jahr 1991 brachte der S. Fischer Verlag ihr gesamtes bis dahin entstandenes dichterisches Werk in acht zumeist schmalen Bänden heraus, die auch heute noch erhältlich sind und unter Aichinger-Lesern als Standard-Ausgaben gelten.

Darunter ist auch ihre Kurzgeschichte „Spiegelgeschichte“, mit der sie 1952 den Preis der Gruppe 47 erhielt und in der sie in umgekehrter Reihenfolge vom Tod bis zur Geburt das Leben einer Frau erzählt. In der Autorengruppe lernte sie zudem den Lyriker Günter Eich kennen, den sie später heiratete und mit dem sie bis zu seinem Tod 1972 zusammenlebte.

Gemeinsam suchten sie in ihren Werken nach immer abstrakteren und symbolhaltigeren Ausdrucksweisen. Aichinger brauchte nie viele Worte, um ein Thema einzukreisen, und wenn sie den richtigen Ton fand, dann war er einprägsam und preisverdächtig. Anders als ihre Landsfrau Elfriede Jelinek, die für viel geringere Sprachkunst ausgezeichnet wurde, hat Aichinger zwar nie den Nobelpreis erhalten. Doch sie bildete den Anfang eines Trios von Frauen derselben Generation, welche die österreichische Nachkriegsliteratur mitgeprägt haben. Zu diesem gehörte neben Friederike Mayröcker vor allem Ingeborg Bachmann, aus deren Schatten Aichingers Werk so allmählich wieder heraustritt.

Literaturhinweise Die Werke von Ilse Aichinger sind bei S. Fischer erschienen (8 Bände, 60 Euro). Bei Suhrkamp neu herausgekommen ist der Briefwechsel mit Günter Eich („halten wir einander fest und halten wir alles fest!“, 250 Seiten, 40 Euro). Neu außerdem sind das „Ilse Aichinger Wörterbuch“ (Wallstein Verlag, 368 Seiten, 22 Euro) und Teresa Präauers Studie „Über Ilse Aichinger“ (Mandelbaum Verlag, 110 Seiten, 12 Euro)