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Folge 44-21 vom 05. November 2021 / Arbeitsmarkt / Den USA und Deutschland geht das Personal aus / Zu wenig Geld, zu schlechte Arbeitsbedingungen – und dann der Lockdown: Viele Tätigkeiten sind den Arbeitnehmern schlicht unattraktiv geworden

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 44-21 vom 05. November 2021

Arbeitsmarkt
Den USA und Deutschland geht das Personal aus
Zu wenig Geld, zu schlechte Arbeitsbedingungen – und dann der Lockdown: Viele Tätigkeiten sind den Arbeitnehmern schlicht unattraktiv geworden
Wolfgang Kaufmann

In schlechten Zeiten klammern sich abhängig Beschäftigte verbissen an ihre Jobs. In guten Seiten hingegen, in denen eher Voll- oder gar Überbeschäftigung herrscht als Unterbeschäftigung, neigen sie eher dazu, ihren Arbeitsplatz aufzugeben, denn andere Arbeitgeber haben auch schöne Stellen im Angebot. Wie anderswo in der Welt gilt diese Regel auch in den Vereinigten Staaten.

In den USA sind die Arbeitslosenzahlen deutlich gesunken. Vom August zum September sank die Arbeitslosenquote um 0,4 Punkte auf 4,8 Prozent. Bei mehr als zehn Millionen offenen Stellen herrscht eklatanter Personalmangel.

Zehn Millionen offene Stellen

Vor dem Hintergrund dieser für Arbeitnehmer und Arbeitsuchende entspannten Arbeitsmarktlage beobachten Wirtschaftsexperten in den USA ein Phänomen namens „Great Resignation“ oder „Big Quit“, was zu Deutsch so viel bedeutet wie „großes Aufhören“. Bereits im 

April verzeichneten die Statistiker des US-Arbeitsministeriums (DOL) einen Rekord mit 3,99 Millionen Kündigungen von Arbeitnehmern. Im Juli waren es gut vier Millionen. Und im August stieg die Zahl sogar auf 4,27 Millionen. Das waren immerhin drei Prozent der Beschäftigten. 

Eine Befragung der Unternehmensberatung McKinsey & Company hat ergeben, dass vier Zehntel aller Angestellten in den Vereinigten Staaten vorhaben, innerhalb der nächsten Monate zu einem anderen Arbeitgeber zu wechseln.

Gründe für den Wunsch nach einem Wechsel des Arbeitsplatzes sind vor allem Unzufriedenheit mit den Arbeitsbedingungen und der Entlohnung sowie der Wunsch nach mehr Flexibilität. Der Personalmangel führt dazu, dass die Firmen nun mehr zahlen müssen, um ihre Beschäftigten zu halten. Im September lagen die Durchschnittsentgelte in den USA um 4,2 Prozent höher als vor zwölf Monaten. 

Wie die Bereitschaft, seinen Job zu kündigen, ist auch jene gestiegen, ihn durch einen Streik tendenziell zu gefährden und sich auf Arbeitskämpfe einzulassen. Seit Anfang dieses Jahres zählte man bereits mehr als 250 Streiks, obwohl nur noch jeder zehnte US-Amerikaner gewerkschaftlich organisiert ist. 

Aus all dem zog der Arbeitsmarktspezialist von der University of Califoria in Berkeley, Harley Shaiken, den Schluss: „Wir sind in eine neue Ära der Arbeitsbeziehungen eingetreten. Die Beschäftigten haben das Gefühl, sie sind am Drücker und dass es viel aufzuholen gibt.“

Eine ähnliche Entwicklung zeichnet sich nun auch in Deutschland ab. Wie Patrik-Ludwig Hantzsch vom Verband der Vereine Creditreform mit Sitz in Neuss unlängst mitteilte, hat die Corona-Krise den Arbeitskräftemangel hierzulande verschärft. So verfügten elf Prozent der Unternehmen über weniger Personal als vor Beginn der Pandemie. Von dieser Entwicklung besonders betroffen seien der Einzelhandel sowie das Dienstleistungs-, Gaststätten- und Hotelgewerbe und damit die Branchen, die am stärksten unter den von oben verordneten Betriebsschließungen während der Lockdowns gelitten hätten. Diese erlebten einen regelrechten „Corona-Schock“, so der Volkswirtschaftler, Sozialforscher und Arbeitsmarktexperte Stefan Sell vom RheinAhrCampus Remagen der Hochschule Koblenz. 

Einen noch extremeren personellen Aderlass verzeichnete die Luftfahrtbranche. Laut einer Erhebung der Gewerkschaft ver.di vom Sommer dieses Jahres wanderten bis zu 44 Prozent der am Boden Beschäftigten ab. Die waren bisher unter anderem im Check-in-Bereich, der Gepäckabfertigung sowie in der Wartung tätig gewesen.

Kündigungen im Niedriglohnsektor

Die oftmals zu beobachtende Abstimmung mit den Füßen resultierte hierzulande vor allem aus der schlechten Vergütung vieler Tätigkeiten, die ihrerseits bewirkte, dass die Betroffenen auch nur wenig Kurzarbeitergeld erhielten. Das ließ viele nach neuen beruflichen Perspektiven suchen. Beispielsweise wechselten Hotelangestellte zu Immobiliendienstleistern, die neben höheren Gehältern in der Regel auch attraktivere Arbeitszeiten bieten. Das wird in den allermeisten Fällen dazu führen, dass die Abgewanderten nie wieder in ihren alten Beruf zurückkehren.

Die Konsequenzen aus der Kündigungswelle sind schon jetzt vielerorts spürbar: lange Wartezeiten bei der Abfertigung an den Flughäfen und ein eingeschränkter Service in der Hotel- und Gastronomie-Branche sowie im Einzelhandel. Auch dürfte es in diesem Jahr auf den Weihnachtsmärkten deutlich weniger Stände geben, weil Verkäufer fehlen. Und dort, wo noch gearbeitet wird, sind Preissteigerungen zu erwarten, da das Personal mit spürbaren Lohnerhöhungen geködert werden muss.

Der Personalmangel führt erneut zu lauten Rufen nach forcierter Einwanderung. Kürzlich forderte der Chef der Bundesagentur für Arbeit, Detlef Scheele (SPD), im Interview mit der „Süddeutschen Zeitung“: „Wir brauchen 400.000 Zuwanderer pro Jahr. Also deutlich mehr als in den vergangenen Jahren.“ Ob die Probleme auf dem deutschen Arbeitsmarkt damit tatsächlich verschwinden, wird sich bald zeigen. Denn durch das Zutun von Weißrussland schwillt der Immigrantenstrom derzeit wieder drastisch an.