17.04.2024

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Folge 44-21 vom 05. November 2021 / Gerhart-Hauptmann-Haus / Kämpfer gegen die Feigheit / Klaus Weigelt stellte sein Buch über den Dichter Ernst Wiechert vor

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 44-21 vom 05. November 2021

Gerhart-Hauptmann-Haus
Kämpfer gegen die Feigheit
Klaus Weigelt stellte sein Buch über den Dichter Ernst Wiechert vor
Bärbel Beutner

Das Jahr 2020 war für die Internationale Ernst-Wiechert-Gesellschaft (IEWG) ein mehrfaches Jubiläumsjahr. Am 24. August 1950 verstarb der Dichter auf dem Rütihof in Ürikon in der Schweiz und fand in Stäfa am Zürichsee seine letzte Ruhestätte. Auf dem Sterbebett konnte er seinen letzten Roman „Missa sine nominé“ gedruckt in die Hand nehmen. Fünf Jahre vorher, am 11. November 1945 hielt er in München die „Rede an die deutsche Jugend“, die zum Weltkulturerbe wurde, eine Abrechnung mit dem NS-Regime und ein leidenschaftliches Bekenntnis zur Humanität und zur Nächstenliebe.

Zu diesen Ereignissen hatte die IEWG drei Veranstaltungen geplant. Alle Pläne fielen der Pandemie zum Opfer. Doch die IEWG brachte im Jahr 2020 den 7. Band ihrer „Schriftenreihe“ heraus: Klaus Weigelt, „Schweigen und Sprache. Literarische Begegnungen mit Ernst Wiechert“, Quintus-Verlag, Berlin 2020. 

Am 21. September 2021 stellte der Autor dieses Werk im Gerhart-Hauptmann-Haus (GHH) in Düsseldorf vor. Er richtete den Fokus auf Wiechert im Widerstand und in der Inneren Emigration. Er sprach zunächst über Wiecherts Reden von 1933 und 1935, dann über den Bericht „Der Totenwald“ (Wiecherts KZ-Erlebnisse), um auf die literarische Verarbeitung dieser KZ-Erfahrungen einzugehen. Der „Rede an die deutsche Jugend“ von 1945 wurde besondere Aufmerksamkeit gewidmet.

Weigelt konfrontierte das Publikum mit der These: „Er ist ein Dichter und Romancier, aber kein politischer Schriftsteller.“ Es ginge ihm nie um Politik, auch dort nicht, wo politische Sachverhalte thematisiert werden. Dennoch seien die Reden „außerordentliche Zeitdokumente“, so Weigelt. Unter dieser Prämisse bezog Weigelt Wiecherts „Abschiedsrede an die Abiturienten“ von 1929 mit ein, die in dem Appell gipfelt: „Aber es ist nötig, dass es etwas weniger Tränen auf der Welt gibt, etwas weniger Unrecht, etwas weniger Gewalt, etwas weniger Qualen.“

Es ging nicht um Politik

Die Rede „Der Dichter und die Jugend“ wurde am 6. Juli 1933 im Auditorium Maximum der Universität München gehalten: Die Nationalsozialisten sind an der Macht, die Jugend erfährt eine neue, aber fragwürdige Wertschätzung. Kraft, Kampfgeist, Skrupellosigkeit sind angesagt. Dem setzt Wiechert die Demut entgegen. „Seid demütig, meine Freunde, nicht vor den Menschen, aber vor Gott...“ Er ruft zu Mitleid und Hilfe, zur Nächstenliebe auf. Die Machthaber werden auf ihn aufmerksam. Zwei Jahre später, in der Rede vom 16. April 1935, wählt Wiechert Worte, die ihn endgültig zu einem „Verdächtigen“ des Regimes machen. 

Weigelt nennt diese Rede „Der Dichter und seine Zeit“, „eine Rede gegen die Feigheit“. Wiechert kritisierte darin unumwunden die Ideologisierung der Kunst als „Ermordung der Seele“, die Pervertierung der Pädagogik zur Verneinung der Ehrfurcht vor sittlicher Größe und zur „Bejahung der Anarchie“. Er „beschwor“ seine Zuhörer, nicht zu schweigen aus Feigheit, sondern ihrem Gewissen zu folgen. Weigelt urteilt: „Auch heute ist der Text noch so aktuell wie damals“, und er sprach von „ dem prophetischen Feuer“ dieser Rede, indem der Dichter das katastrophale Ende des NS-Regimes voraussagte.

Es dauerte dann noch drei Jahre, bis Wiechert in „Schutzhaft“ genommen wurde. Am 6. Mai 1938 wurde er ins Polizeigefängnis München transportiert, wo er bis zum 4. Juli 1938 inhaftiert war. Von dort wurde er ins Konzentrationslager Buchenwald überstellt. Ende August wurde er krank entlassen und stand von nun an bis 1945 unter Gestapo-Aufsicht.

Die KZ-Haft veränderte Wiecherts Menschen- und Gottesbild. Er begegnete einer „unbekannten Kultur“, die sich als „Zerstörung des Menschengesichtes“ und als „Schändung der Sprache“ erwies. Weigelt nannte Wiechert den „ersten Chronisten des Holocaust“, der alle „Elemente der Endlösung“ in Buchenwald vorausgesehen habe. Eigentlich war Buchenwald ein „Umerziehungs-“ und „Arbeitslager“ für politische Häftlinge, aber Weigelt beruft sich auf Wiechert: „Für die jüdischen Häftlinge war Buchenwald, wie Wiechert bezeugt, ein Vernichtungslager. Sie wurden dort als halb Verhungerte im berüchtigten ‚Steinbruch‘ zugrunde gerichtet.“ 

Die „Rede an die deutsche Jugend“, mit der Wiechert am 11. November 1945 im Münchner Schauspielhaus vor ein besiegtes, verarmtes, gedemütigtes und verstörtes Volk trat, kommentierte Weigelt mehrmals: „Das hörte man damals nicht gerne!“ Er nannte die Rede „das rhetorische Meisterwerk und die ethisch-moralische Glanzleistung des Dichters Ernst Wiechert“.

Dieser rechnete ab, nicht nur mit dem Regime, sondern auch mit dem Volk, das dieses Regime nicht habe durchschauen wollen und sich in eine Knechtschaft begeben habe, die mit dem Ruf „Jude verrecke“ begann und mit dem Henkersbeil endete. Der Referent zitierte die markantesten Stellen, in denen der Redner von der „Vergiftung der Seelen“ spricht, die Machthaber „Zuhälter“ nennt, die das „Heiligtum der Sprache“ geschändet haben, und die „Prostitution des Geistes und der Kunst“ anprangert. Wiechert rief sogar  zur „Ausrottung“ dieses „Aussatzes“ auf. 

Wiecherts Werk nach 1938 ist von der Verarbeitung der Diktatur und besonders der KZ-Erfahrungen gezeichnet. Weigelt erläuterte diese Tatsache an den Romanen „Das einfache Leben“, „Die Jerominkinder“ und „Missa sine nominé“ sowie an einigen Novellen und Erzählungen. In Wiecherts „Märchen“ gibt es konkrete KZ-Schilderungen, was Weigelt entdeckt und herausgearbeitet hat.

Die Aussprache, die sich an die Lesung anschloss, rückte sehr schnell die Wiechert-Gesellschaft in den Mittelpunkt, da das Publikum sofort nach der Aktualität Wiecherts heute fragte und wissen wollte, ob die IEWG die Lektüre Wiecherts wieder in die Unterrichtspläne bringen wolle. 

Weigelt konnte beide Fragen aufgreifen und die 31-jährige Geschichte der IEWG vorstellen. Die 1989 gegründete Wiechert-Gesellschaft ist zu einer international anerkannten wissenschaftlichen Institution geworden, ihre Publikationen und Tagungen finden grenzüberschreitend Beachtung, und die Zusammenarbeit mit den Universitäten in Posen, Lodz und Königsberg funktioniert. Unter den 150 Mitgliedern aus elf Nationen ist die jüngere Generation gut vertreten.