25.04.2024

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Folge 45-21 vom 12. November 2021 / Östlich von Oder und Neiße / Über die Europastadt kommen die Stolpersteine / Ost-Görlitz erinnert sich jüdischer NS-Opfer

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 45-21 vom 12. November 2021

Östlich von Oder und Neiße
Über die Europastadt kommen die Stolpersteine
Ost-Görlitz erinnert sich jüdischer NS-Opfer
Chris W. Wagner

Es dämmert bereits, als eine große Gruppe am Gehsteig der ul. Kościuszki in Ost-Görlitz [Zgorzelec] einen Kreis bildet. Ein lautes Stromaggregat sorgt für Scheinwerferlicht. „Was ist hier passiert?“, fragt eine besorgte Passantin, als sie inmitten des Kreises einen Mann mit dem Gesicht zum Gebäude knien sieht. Es ist Gunter Demnig, der dabei ist, drei Stolpersteine zu verlegen, die ersten im östlichen Teil der Europastadt Görlitz an der Neiße. „Das Einsetzen selber kann ich im Dunkeln. Mache ich aber nicht wieder, lasse mich nicht mehr darauf ein“, sagt der Ideengeber der Stolpersteine. Dabei ist das Verlegen der Steine in der Republik Polen eine Seltenheit für den Künstler. „Sehr oft war ich ja noch nicht in der Republik Polen. Es ist immer noch recht schwierig, weil es hier so eine komische Institution gibt, die sich für Denkmale zuständig fühlt, und die kommt mit den Steinen irgendwie nicht zurecht“, bedauert Demnig. 

Seit 2008 gibt es Stolpersteine in der Republik Polen

Den ersten Stolperstein in der Republik Polen hat er 2008 in Breslau gelegt. Als er mit 50 weiteren im Gepäck nach Warschau reiste, war anfangs noch alles klar. „Daten waren klar, auch die Orte waren klar, dann kam plötzlich noch die Aufforderung nach einer technischen Zeichnung, wie die Steine eingesetzt werden. So habe ich drei Zeichnungen gefertigt, also Asphalt, Steine, Kleinpflaster – hingeschickt. Als Antwort kam zurück: ‚Wir brauchen jetzt noch ein geodätisches Gutachten und ein architektonisches Gutachten‘. Na ja, damit war das Projekt gestorben. Doch meistens klappt das dann gut, wenn Angehörige sich drum kümmern und mit dem Bürgermeister reden“, sagt der Künstler.

Nicht eine Angehörige, sondern die US-Amerikanerin und seit fast zwei Jahren Neu-Görlitzerin Lauren Leiderman hat das polnische Rathaus der Neißestadt vor einem Jahr via E-Mail kontaktiert. „Sie schrieb, dass sie am Haus Nummer 10 in der einstigen Courbièrestraße [ul. Kościuszki] einen Blumenstrauß, drei Kerzen mit Namen und eine laminierte Information zu den Personen hinterlegt“, berichtet Rathaus-Pressesprecherin Renata Burdosz. „Der Bürgermeister rief mich am selben Abend an mit der Frage an, wer in der ul. Kościuszki 10 gewohnt hat“, so Burdosz. 

Leiderman konnte den Bürgermeister für die Sache gewinnen, und beide starteten eine Aufklärungsarbeit. Burdosz trommelte die Einwohner des Hauses Nr. 10 zusammen und schilderte die Geschichte von Max Goldberg, seiner Frau Helene und ihrer Tochter Eva, die 1938 vor den Nationalsozialisten aus Görlitz fliehen konnten, und auch, dass die kleine Eva ein Poesiealbum führte, dank dem Leiderman viele Schicksale jüdischer Görlitzer rekonstruieren konnte. „Zudem hatte Lauren an unserem Europalyzeum darüber gesprochen, und heute bei der Steinverlegung habe ich die Lehrerin und einige Schülerinnen gesehen“, so Burdosz, die eine kleine polnischsprachige Ausstellung vor dem Haus organisiert hat. Diese informiert über das Schicksal der Familie Goldberg.

Der 22-jährige Piotr Wołczyk wohnt im Haus Nr. 10, hatte jedoch das Burdosz‘sche Informationstreffen verpasst. „Ich arbeite lange und komme eigentlich nur zum Schlafen nach Hause. Mir ist die Ausstellung aufgefallen, aber gelesen habe ich sie noch nicht. Ich werde es nachholen“, verspricht er.

Daniel Breutmann vom Bürgerbüro der Görlitzer Südstadt stand Leiderman bei der Stolpersteininitiative von Anfang an zur Seite. Für ihn ist es wichtig zu zeigen, dass die Geschichte nicht am westlichen Neißeufer endet. „Die Gesellschaft hat sich ja vor dem Kriegsende nicht in Ost und West geteilt. Natürlich sind wir heute in der Görlitzer Oststadt, im polnischen Zgorzelec, aber es ist eben auch ein Teil und diesem Teil wird sich angenommen“, freut sich Breutmann. Sich der Menschen anzunehmen, die einst am Ostufer der Neiße lebten, ist für Bürgermeister Rafał Gronicz selbstverständlich. „In dieser Region haben auch wir Polen unsere Geschichte anderswo. Und auch wir möchten, dass man unsere Geschichte pflegt. Wir wollen doch auch, dass man die Polen im Osten in Erinnerung hält, auch wenn es sie dort nicht mehr gibt. Es ist ein Akt der historischen Gerechtigkeit diesen Menschen gegenüber, die hier einst lebten“, so der polnische Bürgermeister. Chris W. Wagner