19.04.2024

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Folge 46-21 vom 19. November 2021 / „Eine existentielle Herausforderung“ / Über die Ziele einer neu gegründeten Denkfabrik, die Definition bürgerlicher Politik und entscheidende Themenfelder der nächsten Jahre

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 46-21 vom 19. November 2021

„Eine existentielle Herausforderung“
Über die Ziele einer neu gegründeten Denkfabrik, die Definition bürgerlicher Politik und entscheidende Themenfelder der nächsten Jahre
René Nehring

Im Gespräch mit Andreas Rödder

Während sich die politische Landschaft neu sortiert, gründen Historiker, Politologen und Ökonomen sowie ehemalige Politiker einen liberalkonservativen Think Tank, um der zuletzt orientierungslos wirkenden bürgerlichen Mitte neue Impulse zu geben. Kopf des Projekts ist der Mainzer Historiker Andreas Rödder, selbst Mitglied der CDU und des Vorstands der Konrad-Adenauer-Stiftung – und oft genug an der Politik der Union in den letzten Jahren verzweifelt. Sein Ziel: nicht geliebt zu werden, sondern respektiert. 

Herr Professor Rödder, warum haben Sie mit einigen Mitstreitern die „Denkfabrik Republik 21“ gegründet? 

Wir wollen Konzepte und Strategien bürgerlicher Politik entwickeln, diese in die öffentliche Debatte und auch in die praktische Politik einbringen. Wir wollen mit unserer Denkfabrik sowohl eigene Impulse geben als auch mit unserem Rat politischen Akteuren, die bürgerliche Politik betreiben wollen, dabei helfen, ihrerseits Akzente zu setzen.

Sind aus den Reihen der Union schon Politiker auf Sie zugekommen, um Ihr Angebot anzunehmen? 

In der Tat haben wir bereits zahlreiche Gespräche geführt. Wir haben das Glück, dass wir mit unserer Initiative in eine Zeit hineinkommen, in der die Union vor der elementaren Aufgabe steht, sich selbst neu zu erfinden. Deshalb sind die Ohren derzeit offener als sie es vielleicht in den vergangenen Jahren gewesen wären.  

Nun herrscht innerhalb der CDU noch ziemliche Unklarheit darüber, wie groß denn die Neuorientierung der Partei ausfallen soll. Was meinen Sie dazu? 

Die Union muss sich wieder breiter aufstellen und das gesamte Spektrum christdemokratischer Politik abdecken. Und sie muss ein Profil entwickeln, das von anderen Mitbewerbern unterscheidbar ist. Das ist eine sehr grundsätzliche Aufgabe. Es geht nicht nur darum, zu einzelnen Themen Positionen zu finden, sondern Politik aus christdemokratischen Prinzipien heraus neu zu begründen. 

Dabei rate ich der Union dringend, mit Etiketten sorgsam umzugehen. Man spricht in der internen Kommunikation gern von den „drei Wurzeln“ der Partei. Diese befinden sich jedoch allzu oft nicht in einem Miteinander, sondern eher in einem Gegeneinander. Insbesondere, wenn „die Konservativen“ mit der Absicht etikettiert werden, sie als ewiggestrig oder gar „rechts“ abzuwerten. Die drei Wurzeln – die christlich-soziale, die wirtschaftsliberale und die konservative – haben sich schon vor Jahrzehnten zu etwas Neuem verbunden, zur Christdemokratie. Und die DNA von Christdemokratie ist das Prinzip der Subsidiarität, der Mischung aus Eigenverantwortung und gesellschaftlicher Solidarität. 

Wenn die Union sich darauf wieder besinnt, und das hat sie in den letzten Jahren zu wenig getan, dann wird sie auch wieder eigenständige und auch zukunftsfähige Positionen entwickeln können. Ein solches Bewusstsein hilft mehr, als sich gegenseitig mit irgendwelchen Etiketten zu belegen und damit im Grunde nur andere Parteifreunde zu stigmatisieren. 

„Eigenständig“ ist sicherlich ein Schlüsselwort. Eine Ihrer wichtigsten Mitstreiterinnen ist die ehemalige Familienministerin Kristina Schröder, die bei der Vorstellung von „R21“ sagte, dass die Programmatik der Union in den letzten Jahren zumeist daraus bestanden habe, die Positionen anderer Parteien zu übernehmen und davon zehn Prozent abzuziehen …

… eine schöne Formulierung … 

… in der Tat. Wie wollen Sie die programmatische Eigenständigkeit der Union wiederherstellen? 

Indem die Union wieder aus ihren eigenen christdemokratischen Prinzipien heraus argumentiert. In der Europapolitik, um nur ein Beispiel zu nennen, bedeutet Subsidiarität, dass Deutschland mehr Verantwortung übernehmen muss – ohne deshalb gleich der Ideologie von der „immer engeren Union“ hin zu einem europäischen Bundesstaat oder finanzpolitisch zu einer europäischen Transferunion zu folgen. 

Ein anderes Beispiel ist die Familienpolitik, wo man sagen kann: Familien erfüllen einen zentralen Zweck für das Gemeinwohl, indem sie Kinder erziehen. Deswegen ist es wichtig, Familien Chancen für ein selbstbestimmtes Leben zu eröffnen, was sowohl heißen kann, ihnen Möglichkeiten für außenfamiliäre Betreuung zu geben, als auch – wenn sie dies wollen – die Kinderbetreuung anderweitig oder selbst zu leisten. Die Aufgabe des Staates hierbei ist lediglich, Hilfe zu einer selbstbestimmten Lebensführung zu leisten – und nicht, Familien vorzugeben, wie sie leben sollen. 

Mit dieser Verknüpfung von individueller Freiheit und Gemeinwohl kann die Union sehr schnell wieder zu unterscheidbaren Positionen kommen. Und wenn sie aus ihren eigenen Grundüberzeugungen heraus Positionen formuliert, braucht sie sich auch nicht darum zu kümmern, ob irgendwelche Wettbewerber in Einzelfragen ähnlich argumentieren wie die Union.

Konrad Adenauer soll kurz vor seinem Ausscheiden aus der Politik gesagt haben, dass wenn die Union den Anspruch aufgibt, eine Weltanschauungspartei zu sein, sie früher oder später auseinandergehen wird. In den letzten Jahren hat die Union jedoch eher das Gefühl vermittelt, am liebsten ganz auf programmatische Grundsätze verzichten zu wollen, um pragmatisch die Zeitläufte gestalten zu können. Glauben Sie, dass die CDU überhaupt willens und in der Lage ist, wieder eine an programmatischen Grundsätzen orientierte Partei zu werden? 

Die Union ist sicherlich immer eine pragmatische Partei gewesen, aber gleichwohl eine Partei mit inhaltlichen Leitplanken. Und bei allem für das Regieren erforderlichen Pragmatismus hat sie über die Jahrzehnte hinweg immer ihre Grundprinzipien und ihr Koordinatensystem gehabt. Deshalb gefährdet der Eindruck, dass dies nicht mehr so ist, die Partei in ihrer Identität und letztlich in ihrer Existenz. Insofern bin ich zuversichtlich, dass auch andere Akteure schnell begreifen werden, wie wichtig es ist, Politik auf Basis der eigenen Grundüberzeugungen zu formulieren und nicht nur dem Zeitgeist hinterherzulaufen. 

Sehen Sie die gegenwärtige Krise der Partei also auch als Chance? 

Ich sehe die Krise zunächst einmal als eine reale Gefahr. Die Beispiele der italienischen „Democrazia Cristiana“ Anfang der 1990er oder auch der französischen bürgerlichen Rechten in den letzten zehn Jahren zeigen uns, wie real diese Gefahr ist. Deshalb ist es eben auch so eine existentielle Herausforderung für die Union, sich wieder neu zu beleben. Und das ist zugleich die Chance.

Wie reagieren eigentlich die Partei-nahen Stiftungen von Union und FDP auf Ihre Initiative? 

Wir verstehen uns als Partner der bürgerlichen Parteien und ihrer Institutionen – sehr bewusst übrigens, weil wir vorher viel über die Union gesprochen haben, der bürgerlichen Parteien allgemein. Da ich selbst Mitglied im Vorstand der Konrad-Adenauer-Stiftung bin und der Vorsitzende der Friedrich-Naumann-Stiftung, Karl-Heinz Paqué, Mitglied in unserem Beirat ist, wird deutlich, dass wir keine Konkurrenten der bestehenden bürgerlichen Parteistiftungen sind. 

Wie definieren Sie eigentlich „bürgerlich“? 

Man muss sehr aufpassen, dass „bürgerlich“ nicht zu einer allgemeinen Leerformel für alles und jedes wird. Wir definieren Bürgerlichkeit über vier Elemente: erstens Selbstverantwortung und Subsidiarität, zweitens Freiheit und Pluralismus – das ist etwas anderes als eine nach Gruppenzugehörigkeiten gegliederte Diversität –, drittens Rechtsstaatlichkeit sowohl als Garant der Ordnung als auch als Garant der Humanität, was übrigens dieses Prinzip nach links und nach rechts abgrenzt. Sowie viertens Ordnungspolitik mit dem Bekenntnis zu Marktwirtschaft, Wettbewerbsorientierung und Technologieoffenheit. 

Im laufenden Semester sind Sie Gastprofessor an der Johns Hopkins University in Washington. Haben Sie sich dort angesehen, wie US-amerikanische Think Tanks funktionieren? 

In der Tat ist ein großer Vorzug meiner Zeit in Washington, die Arbeit dortiger Denkfabriken beobachten zu können und Kontakte zu ihnen herzustellen. Ob man daraus etwas für die europäische oder deutsche politische Landschaft übernehmen kann, vermag ich im Moment noch nicht abzuschätzen. 

Wer finanziert Ihre Arbeit? 

Wir haben drei Quellen: Die erste und bislang entscheidende sind Eigenleistungen der Gründer. Zweitens wollen wir Spenden einwerben und drittens für die erbrachten Beratungsleistungen unserer Denkfabrik perspektivisch auch Honorare einnehmen. 

Das Ziel ist, dass wir auf der einen Seite selbst aktiv werden, dass wir uns zweitens als Plattform mit anderen Experten assoziieren und uns drittens auch einen eigenen Apparat aufbauen wollen. Aber das müssen wir nacheinander tun. Ein Unternehmensberater in unserem Initiatoren-Team hat mir unser Geschäftsmodell als „inkrementell arbeitendes Start-Up“ erklärt. Meine simple Übersetzung dafür ist: „klein anfangen und groß herauskommen“.

Mit welchen Themen betritt die Denkfabrik „Republik 21“ die politische Bühne? 

Wir beginnen mit vier Oberthemen: „Moderner Staat – starke soziale Marktwirtschaft“, „Freiheit und plurale Gesellschaft“, „Smarte Politik für morgen“ sowie „Deutschland – Partner in Europa und in der Welt“. Zum Start haben wir zwei Positionspapiere vorgelegt: zur Einwanderungsgesellschaft mit einem weltoffenen Patriotismus sowie zu Maastricht 3.0, einer nachhaltigen Reform der Europäischen Währungsunion. Nach und nach wollen wir die Breite unserer Themen erweitern. Der nächste Schritt ist die Erarbeitung einer ordnungspolitischen Klimapolitik, die eine Modernisierung unserer Volkswirtschaft auf der Basis marktwirtschaftlicher Grundsätze anstrebt anstelle von regulatorischen Eingriffen von oben. 

Bei der Vorstellung von „R21“ drückte Kris-tina Schröder die Erwartung aus, dass die FDP in der kommenden Ampel-Koalition die „identitätspolitischen Übergriffe von Rot-Grün abwehrt“. Um den Begriff der Identitätspolitik haben die bürgerlichen Parteien bislang einen Bogen gemacht, während er auf der linken Seite des politischen Spektrums schon seit geraumer Zeit Gegenstand grundlegender Auseinandersetzungen ist. Welchen Beitrag wollen Sie zur Identitätspolitik leisten? 

Es ist eine entscheidende Herausforderung für bürgerliche Politik, die Kulturkämpfe unserer Zeit – die ja da sind – anzunehmen und offensiv zu führen. Unser Anspruch ist es, das Aktionsfeld in diesen kontroversen Deutungskämpfen unserer Zeit aktiv zu bearbeiten. Es wäre selbstmörderisch für das bürgerliche Lager, wenn man meinte, man könnte Kulturkämpfe dadurch führen, dass man sie umgeht. Wir wollen mit intellektueller Satisfaktionsfähigkeit offensiv in diese Debatten eingreifen und nicht nur halbherzige Abwehrschlachten führen. Wir wollen nicht geliebt, sondern respektiert werden. 

Das Interview führte René Nehring.





Zur Person

Prof. Dr. Andreas Rödder ist Professor für Neueste Geschichte an der Johannes Gutenberg Universität Mainz. Anfang 2021 gehörte er zu den Gründern des Netzwerks Wissenschaftsfreiheit, das für freie und kontroverse Sachdebatten sowie gegen Cancel Culture und Political Correctness eintritt. Zuletzt erschien „Konservativ 21.0. Eine Agenda für Deutschland“ (C.H. Beck 2019). Weitere Informationen zur „Denk-

fabrik Republik 21“ unter:

https://denkfabrik-r21.de