20.04.2024

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Folge 46-21 vom 19. November 2021 / Russland / Die Angst greift um sich / Immer mehr Menschen werden als „Agenten“ gebrandmarkt – auch Privatposts können gefährlich sein

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 46-21 vom 19. November 2021

Russland
Die Angst greift um sich
Immer mehr Menschen werden als „Agenten“ gebrandmarkt – auch Privatposts können gefährlich sein
Manuela Rosenhtal-Kappi

An Hausdurchsuchungen bei Dutzenden Anhängern des Häftlings Nummer eins, Alexej Nawalnyj, hat sich die russische Öffentlichkeit bereits gewöhnt. Die Mehrheit interessiert sich ohnehin nicht dafür.

Allmählich zeichnet sich aber immer mehr ab, dass die russische Staatsmacht regelrecht Jagd auf Andersdenkende und auf diejenigen macht, die es wagen, allzu offen ihre Meinung kundzutun. Das trifft inzwischen neben vielen vom Westen unterstützten Nichtregierungsorganisationen (NGO) verstärkt unabhängige Medien sowie Journalisten, Künstler und politische Aktivisten. Auf der Liste „Ausländischer Agent“ stehen mittlerweile mehr als 30 Medien und 60 Einzelpersonen sowie 80 NGO. 420 politische Häftlinge sitzen derzeit in Russland ein. 

Viele Nawalnyj-Unterstützer, Bürgerrechtler, Rechtsanwälte und ganze Redaktionen sind bereits ins Ausland geflohen. Jährlich kehren 300.000 junge Menschen Russland den Rücken, weil sie die schlechter werdenden Lebensbedingungen in einem immer autoritärer werdenden Staat fürchten.

Zuletzt hat es die Menschenrechtsorganisation Memorial getroffen. Das oberste Gericht wird am 25. November über einen „Liquidierungsantrag“ der Generalstaatsanwaltschaft entscheiden. Die 1987 während der Perestrojka gegründete Gesellschaft hatte sich zunächst der Aufarbeitung des Stalinterrors gewidmet, 1991 wurde ein Menschenrechtszentrum gegründet, dem heute Dutzende Regionalverbände in Russland, Kasachstan, der Ukraine und in Westeuropa angehören. Memorial erhielt 2014 den Status eines „Ausländischen Agenten“. Das bedeutet, dass jede Publikation als vom Ausland finanziert gekennzeichnet sein muss. Memorial hatte von Anfang an diesen Zusatz verweigert. Selbst die renommierte St. Petersburger Nachrichtenagentur Rosbalt, die kritische Analysen zu politischen und gesellschaftlichen Themen veröffentlicht, wurde im Oktober als ausländischer Agent eingestuft. 

Putin warnt Nobelpreisträger

Als vor Kurzem Dmitrij Muratow, Chefredakteur der kremlkritischen Zeitung „Nowaja Gaseta“, als dritter Russe nach Andrej Sacharow und Michail Gorbatschow den Friedensnobelpreis erhielt, warnte Wladimir Putin, Muratow solle sich nicht so sicher fühlen. Auch die „Nowaja Gaseta“ könne als „Ausländischer Agent“ eingestuft werden, falls sie russische Gesetze nicht befolge. 

Laut Gesetz ist mit dem Status zwar kein Berufsverbot verbunden, de facto bedeutet es für die Betroffenen aber oft das Aus ihrer beruflichen Karriere. Die gebrandmarkten Medien verlieren Mitarbeiter und Werbekunden, die aus Angst, selbst ins Visier der Ermittler zu geraten, die Geschäftsbeziehung beenden. 

Mit Vorwürfen wie „Verletzung religiöser Gefühle“, „Propaganda für Homosexualität“ oder „ungebührliches Benehmen in der Öffentlichkeit“ werden Andersdenkende systematisch diskriminiert. Homosexuelle und LGBT-Aktivisten trifft es besonders hart. Gegen den Fernsehsender Muz-TV wird wegen „Propaganda für sexuelle Beziehungen unter Minderjährigen“ ermittelt. Stein des Anstoßes war eine Preisverleihung des Senders, zu der erstmals auch Blogger eingeladen waren. Diese erregten Aufsehen, weil sie wie Igor Senjak in Frauenkleidern auftraten. Tik-Tok-Star Danja Milochin erschien mit pink gefärbtem Haar und einem Kleid, dessen eine Hälfte aus einem Männerjackett bestand. Für einen handfesten Skandal sorgten der Bühnenliebling Philipp Kirkorow und der Rapper Dada, die im Aufzug eines frisch vermählten Paars auf den roten Teppich traten. Die Gerichtsverhandlung gegen „Muz-TV“ findet diesen Monat statt. 

Zehn Monate Straflager für Likes im Netz – das hatte einem jungen Blogger und seiner Freundin die Veröffentlichung eines Fotos eingebrockt, das beide in obszöner Pose vor der Basilius-Kathedrale auf dem Roten Platz zeigt. Die Journalistin Natalja Tischkewitsch trägt eine Fußfessel, weil sie im Studentenmagazin „DOXA“ über Massenproteste berichtet hatte. Die Beispiele ließen sich noch lange fortsetzen. Der Fairness halber muss erwähnt werden, dass es auch Richter gibt, die offensichtlich unsinnige Anschuldigungen zurückweisen. Glück hatte der „DOXA“-Redakteur Viktor Jerschow. Er sollte sich dafür verantworten, dass er ein Plakat mit der Forderung nach Meinungsfreiheit statt Diktatur herumgetragen hatte. Ein St. Petersburger Gericht sprach ihn frei.

In Russland greift die Angst um sich – die des Volkes vor dem Staat und die der Obrigkeit vor dem eigenen Volk. Gegner des Gesetzes „Ausländischer Agent“, die Journalistenvereinigung und die Partei „Gerechtes Russland – für die Wahrheit“, kämpfen für dessen Revision. In seiner jetzigen Form stellt es ein Instrument der Zensur und Unterdrückung der Meinungsfreiheit dar.