20.04.2024

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Folge 46-21 vom 19. November 2021 / Nachkriegsgeschichte / Wie erging es Vertriebenen in der SBZ? / Experten wie Hartmut Koschyk und Bernard Gaida beleuchten das Thema von verschiedenen Seiten

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 46-21 vom 19. November 2021

Nachkriegsgeschichte
Wie erging es Vertriebenen in der SBZ?
Experten wie Hartmut Koschyk und Bernard Gaida beleuchten das Thema von verschiedenen Seiten
Karlheinz Lau

Das Thema des Buches „Vertriebene in SBZ und DDR“ ist ein bisher wenig berücksichtigtes Kapitel der deutschen Nachkriegsgeschichte. Es darf behauptet werden, dass die Zeitgenossen in unserem Lande über diesen Teil unserer Geschichte kaum oder nichts wissen. Das drückt sich auch in der verhältnismäßig geringen Zahl wissenschaftlicher Untersuchungen aus. Erst nach der „Wende“ konnte sich die Forschungslage stabilisieren. 

Den Herausgebern ist es gelungen, zehn hochkarätige Experten zu der Thematik zu gewinnen. Stellvertretend zwei Namen: Bernard Gaida, den Vorsitzenden des Verbandes der deutschen sozial- und kulturellen Gesellschaften in Polen (VdG) und Gundula Bavendamm, die Direktorin der Bundesstiftung Flucht, Vertreibung, Versöhnung in Berlin. Als ehemaliger Generalsekretär des Bundes der Vertriebenen und Beauftragter der Bundesregierung für Aussiedlerfragen und nationale Minderheiten gilt Hartmut Koschyk als intimer Kenner des Komplexes Flucht und Vertreibung, der über die notwendigen Kontakte verfügt. 

Gesamtdeutsches Bewußtsein

In seinem persönlichen Geleitwort schildert er das Schicksal seiner Familie, die bis zur Vertreibung in Oberschlesien lebte. Ein Teil blieb in der Heimat, ein weiterer Teil kam in der sowjetischen Besatzungszone, der späteren DDR, unter. Der größte Teil der Familie gelangte in die westlichen Besatzungszonen der späteren Bundesrepublik Deutschland. Koschyk betont, dass in seiner Familie gesamtdeutsches Bewusstsein gelebte Realität war. Diese Erfahrung muss als glückliche Fügung angesehen werden, welche die Mehrheit der Vertriebenen-Familien nicht in allen Teilen Deutschlands hatte.

Die einzelnen Beiträge bieten die wichtigsten Daten, die für ein Verständnis des Themas notwendig sind. Sie sind stets im Vergleich zur Entwicklung des Vertriebenenproblems in den westlichen Besatzungszonen zu sehen, um die qualitativen Unterschiede zwischen „Ost und West“ zu erkennen. Die Gebiete der ehemaligen Sowjetischen Besatzungszone waren Aufnahme- und Durchgangsraum für mehr als zehn Millionen Flüchtlinge und Vertriebene. 1950, so die Schätzungen, befanden sich etwa 8,1 Millionen in der Bundesrepublik Deutschland und 4,1 Millionen in der DDR. Dieser Anteil veränderte sich bis zum Mauerbau 1961 durch Abwanderung und Flucht aus der DDR in die Bundesrepublik. Ihre Zahl wird auf 2,7 Millionen Menschen geschätzt. 

Die Vertriebenenpolitik der Sowjetischen Besatzungsmacht und damit auch der SED wird bis 1949/50, bis zu den Gründungsmonaten der DDR, dargestellt. Es wird deutlich, dass die Grundsätze der Vertriebenenpolitik eindeutig von der Sowjetunion bestimmt wurden. Es gab in der SBZ keine Vertriebenen oder Flüchtlinge, sondern „Umsiedler“ oder „Neubürger“. Es lag nicht in ihrem Interesse, die neue Ostgrenze an Oder und Lausitzer Neiße infrage zu stellen. Der Görlitzer Vertrag von 1950, in dem die DDR diese Demarkationslinie als deutsche Ostgrenze anerkannte, zeigt diese Position. 

Unterschiede in Ost und West

Folglich wurden alle Versuche untersagt und strafrechtlich verfolgt, Landsmannschaften oder gar einen Zentralverband der Vertriebenen zu gründen. Treffen mussten im Geheimen oder in der Privatsphäre abgehalten werden, und diese gab es trotz Stasi bis 1989. Es existierten also keine Vertriebenenverbände, bei denen die Gefahr bestand, Revisions- und Rückkehrforderungen zu stellen. Die Vertriebenen wurden als eigene Gruppe nicht mehr benannt – so die amtliche Sprachregelung der DDR. 

In verschiedenen Beiträgen werden die oft verzweifelten Umstände bei der Ankunft, die unsolidarische Haltung der einheimischen Bevölkerung, die sich abzeichnende Trennung zwischen alten und jüngeren Vertriebenen, die Chancen auf einen Arbeitsplatz hatten, beschrieben. Diese Ausgangssituation hatten natürlich auch die in den Westzonen gestrandeten Menschen. Nur die staatlichen Hilfen unterschieden sich quantitativ und qualitativ im Zuge der Jahre nach 1949. Bemerkenswert dabei ist, dass die Sowjetische Militäradministration wiederholt deutsche Behörden in der SBZ auffordern musste, sich stärker um die „Umsiedler“ zu kümmern. 

Bernard Gaida schildert in seinem Beitrag die Entwicklung des deutsch-polnischen Verhältnisses aus der Sicht eines Deutschen, der seit 1945 in seiner heute zur Republik Polen gehörenden Heimat Schlesien lebt. Versöhnung im Sinne der Gespräche zwischen den polnischen und deutschen Bischöfen ist für ihn das unverzichtbare Fundament einer tiefgreifenden Verständigung, aber diese habe nicht wirklich begonnen, weil „das Prinzip der Kollektivschuld immer noch die deutsch-polnischen Verhältnisse belastet“. 

Der abschließende Beitrag ist eine Bilanz mit Zukunftsperspektiven der Vertriebenenpolitik im Freistaat Sachsen, der das Thema des Buches sprengt. Es ist eine positive Prognose aus Sicht des Staates, allerdings ohne Aussage, wie die beschriebenen Maßnahmen bei den Menschen ankommen. Die Frage bleibt, warum nicht auch die anderen Bundesländer auf dem Territorium der ehemaligen SBZ/DDR behandelt werden. Da wird man mit Sicherheit Unterschiede sehen. 

Das wirft die grundsätzliche Frage auf, wie der Paragraph 96 des Vertriebenengesetzes in allen Bundesländern umgesetzt wird. Hilfreich dafür können authentische Befragungen von Betroffenen sein. Im vorliegenden Buch hätten es mehr sein können. Das ändert aber nichts am Gesamturteil, dass es eine wichtige Publikation zu diesem Teil der Zeitgeschichte ist.

Hartmut Koschyk/ Vincent Regente (Hg): „Vertriebene in SBZ und DDR“, Bebra Wissenschaft Verlag, Berlin Brandenburg 2021, Taschenbuch, 224 Seiten, 24 Euro