23.04.2024

Preußische Allgemeine Zeitung Zeitung für Deutschland · Das Ostpreußenblatt · Pommersche Zeitung

Suchen und finden
Folge 47-21 vom 26. November 2021 / Wendepunkte eines Genossenlebens / Nach dem Rückzug von Norbert Walter-Borjans wollen die Sozialdemokraten Lars Klingbeil zu ihrem neuen Co-Vorsitzenden wählen. Wer ist der Mann, der künftig Deutschlands älteste Partei führen soll? Ein Porträt

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 47-21 vom 26. November 2021

Wendepunkte eines Genossenlebens
Nach dem Rückzug von Norbert Walter-Borjans wollen die Sozialdemokraten Lars Klingbeil zu ihrem neuen Co-Vorsitzenden wählen. Wer ist der Mann, der künftig Deutschlands älteste Partei führen soll? Ein Porträt
Holger Fuss

Das Berliner Hauptquartier der SPD ist benannt nach Willy Brandt. Eine 3,40 Meter hohe Bronzestatue des Namenspatrons steht im Atrium des Hauses. Darum lohnt sich zunächst ein Blick zurück. Als Brandt 1964 Parteivorsitzender wurde, war er 51 Jahre alt, er hatte zwei Weltkriege überstanden, den letzten als Emigrant in Norwegen und Schweden. Er galt als „der deutsche John F. Kennedy“, war ein Liebhaber der Künste und der Frauen, und seine Strahlkraft litt weder unter seinem Alkoholkonsum und seinen Depressionen noch unter der Spionageaffäre um seinen Berater Günter Guillaume. 23 Jahre lang führte er seine Partei, er war ihr Zentralgestirn, ein Intellektueller und Friedensnobelpreisträger. Und als er 1987 wegen einer Frau zurücktrat, weil viele Genossen gegen seinen Vorschlag protestierten, die parteilose Margarita Mathiopoulos zur neuen Vorstandssprecherin zu machen, flossen in der SPD dennoch reichlich Tränen.

Der 20. Vorsitzende seit Brandt

Die goldene Zeit der deutschen Sozialdemokratie wird die Ära Brandt gerne genannt. Keiner seiner bislang 19 Nachfolger reichte an ihn heran. Beobachtern stockte bereits bei Martin Schulz der Atem, der 2017 Sigmar Gabriel ablöste. Ihm folgte Andrea Nahles ein Jahr darauf, sie wurde nach einem weiteren Jahr von Saskia Esken und Norbert Walter-Borjans („Nowabo“) abgelöst und dabei haben wir vier kommissarische Parteichefs schon übersprungen. Immerhin zwei Jahre hielt sich die Doppelspitze Esken/„Nowabo“, nun wird beim Bundesparteitag am 10. Dezember die Parteispitze neu gewählt.

Nachdem Walter-Borjans angekündigt hatte, nicht erneut zu kandidieren, Esken aber weitermachen will, wurde Generalsekretär Lars Klingbeil bestürmt, mit ihr die neue Doppelspitze zu bilden. Doppelspitzen sind immer Verlegenheitslösungen; wenn überzeugende Persönlichkeiten fehlen, muss ein Duo einspringen. Das Tandem steht für den zeitgemäßen Gestus von Machtverklemmtheit. Wer heute ganz nach oben will, muss etwas von Team murmeln. Bloß nicht den Anschein erwecken, als wolle einer alles alleine regeln. Auch wenn es vielen an Ideen gebricht – mitreden wollen alle gern, dieses Demokratiegefühl will keiner missen.

Die Doppelspitze hat die Aura eines Verwaltungsgremiums, nicht aber von einer Lichtgestalt, die die Massen begeistert und die Wähler überzeugt. Die Grünen haben es vorgemacht und ihre Chance, ins Kanzleramt einzuziehen, meisterlich verstolpert. Wäre Habeck alleiniger Parteivorsitzender gewesen, wäre die Lachkandidatur Annalena Baerbocks ein frauenfeindlicher Kabarettscherz geblieben. Auch die SPD-Doppelspitze hat sich bisher als reine Parteibereichsleitung verstanden. Kanzler zu werden und das Land zu regieren, haben Esken wie „Nowabo“ von sich gewiesen. Immerhin hierin haben sie ihre Grenzen erkannt.

Vom Außenseiter zum Primus

Lars Klingbeil ist aus anderem Holz. Als Generalsekretär hat er erstaunliche Ausdauer bewiesen und seit Amtsantritt 2017 vier Vorsitzende überstanden – Schulz, Nahles, Esken und „Nowabo“. Das will im Durchlauferhitzer des Willy-Brandt-Hauses einiges heißen. Dass er obendrein den SPD-Kanzlerkandidaten Olaf Scholz im vergangenen Bundestagswahlkampf aus der Außenseiterposition als Primus über die Ziellinie jagte, wird ihm ebenfalls zugutegehalten. Gewiss, Scholz gewann, weil seine Gegner noch weniger überzeugten, aber Erster ist eben Erster.

„Man muss eben mit dem Personal arbeiten, das vorhanden ist“, sagte einmal ein SPD-Funktionär, ehe er nach Jahrzehnten die Partei verließ und heute bei der FDP die Ampel-Koalition mitverhandelt. Zwei Jahre alt ist dieser Ausspruch, er gilt heute in unveränderter Tragik. Auch Klingbeil gilt bislang nicht als Galionsfigur, dem die Genossen zutrauen, nach innen und nach außen Feuer zu entfachen, um die Partei in die traditionell ersehnte „neue Zeit“ zu führen. Der letzte Sozialdemokrat, dem zumindest zeitweise so viel Charisma nachgesagt wurde, war Kevin Kühnert, den der „Spiegel“ im Juni 2019 auf den Titel hob mit der Zeile: „Kommt jetzt Kevin?“, weil ausreichend viele Parteifunktionäre in ihrer Verzweiflung den damals 29-jährigen Juso-Chef für tauglich hielten, die gesamte Partei zu führen. Nun wird Kühnert als Nachfolger Klingbeils als Generalsekretär gehandelt.

Jüngster SPD-Chef aller Zeiten

Wer sich in der Partei nach Klingbeil umhört, vernimmt allerlei Nettigkeiten, sympathisch scheint er auf alle zu wirken, selbst auf jene, die ihn für ein politisches Leichtgewicht halten. Der „Spiegel“ beschreibt den 1,96-Meter-Mann als „einen zu groß geratenen Teddybären, der sich seinen ständig wechselnden Vorsitzenden problemlos anpassen konnte“. Das Magazin zitiert einen „prominenten Sozialdemokraten“ mit der Einschätzung: „Klingbeil hat man ein Amt angetragen, das er objektiv nicht kann.“ Der SPD-Generalsekretär verfüge nicht über das intellektuelle Format seines Vorgängers Peter Glotz oder der CDU-Vordenker Heiner Geißler und Kurt Biedenkopf.

Was von den einen als ruhige, besonnene, unaufgeregte Art geschätzt wird, ist für andere der Ausweis eines mangelnden Killerinstinkts, der etwa sichtbar wurde, als 2019 die Suche nach dem neuen Parteivorsitzenden stattfand und sechs Kandidatenpaare ins Rennen gingen. Auch Klingbeil wollte sich bewerben, hielt sich aber aus Rücksicht auf seinen Mentor, Niedersachsens Ministerpräsident Stephan Weil bedeckt. Der wiederum zauderte so lange, bis es auch für Klingbeil zu spät war, mit einer geeigneten Partnerin anzutreten.

Nun also der zweite Anlauf, der aller Voraussicht nach erfolgreicher sein wird. Klingbeil hat sich innerhalb weniger Monate vom Generalsekretär einer 15-Prozent-Partei mit einem aussichtslosen Kanzlerkandidaten zum Mit-Architekten der künftigen Kanzlerpartei katapultiert. Er entwarf die Wahlkampagne der SPD und hat in der Partei die Fäden wie ein heimlicher Parteichef in der Hand – was angesichts der profilschwachen Doppelspitze Esken/„Nowabo“ nicht eben schwer fiel.

Dabei hilft ihm zweifellos seine freundliche, beinahe arglos wirkende Wesensart, passend zum jungenhaften Gesicht und seinem Vorhaben, Politik auf eine neue Weise zu betreiben: „Die alten Machtrituale sind nicht mehr zeitgemäß“, verkündet er. „Man kann Politik auch anders machen. Man muss nicht als harter Hund auftreten, um etwas zu erreichen.“ 

Mit 43 Jahren wird Klingbeil der jüngste Parteivorsitzende sein, den die SPD jemals gesehen hat. Und so ist dieses weichgespülte Auftreten auch eine Signatur der nachwachsenden Generation. Es sind die Attribute, die seit den Achtundsechziger-Tagen schon so lange zirkulieren, dass sie selbst schon zu Stereotypen geronnen sind: bloß kein autoritäres Gebaren, flache Hierarchien, Teamfähigkeit, möglichst wenig Machtinsignien. Ikonografisch verkörpern diese Ästhetik der beschwichtigenden Lässigkeit Robert Habeck und Kevin Kühnert, wenn sie mit Drei-Tage-Bart und Kapuzenpulli vor die Kameras treten.

Locker im Umgang, hart in der Sache

Doch diese stilistische Beiläufigkeit sollte nicht darüber hinwegtäuschen, dass eine Politik ohne Krawatte keineswegs sanftmütiger vonstattengeht. Vor Kurzem brachte der NDR die sechsteilige Doku-Serie „Kevin Kühnert und die SPD“, für die sich der damalige Juso-Chef drei Jahre lang mit der Kamera begleiten ließ. In einer Szene erleben wir die heutigen Parteichefs Esken/„Nowabo“ vor der entscheidenden Stichwahl während sie sich wie Schulkinder von Kühnert briefen lassen.

Diese Szene reicht aus, um zu begreifen, dass die beiden Vorsitzenden niemals die Macht im Willy-Brandt-Haus innehaben werden. Die Sequenz erzählt darüber hinaus, dass die neuen Machtrituale der Freundlichkeit kaum weniger brutal und intrigant sind als die alten. Manch einer wünscht sich sogar die alten Haudegen zurück, weil ihnen die Maske der Arglosigkeit fehlte und sie deshalb berechenbarer waren.

Immerhin hat sich Klingbeil zwischenzeitlich sein Piercing aus seiner linken Augenbraue gezogen, für das ihn der damalige Generalsekretär Olaf Scholz bei ihrer ersten Begegnung in einer Kreuzberger Kneipe als Erstes tadelte. Das war 2005, Klingbeil war für wenige Monate als Nachrücker in den Bundestag eingezogen und gehörte noch zur Parlamentarischen Linken innerhalb der Fraktion. Heute ist er pragmatischer und zählt zum eher konservativen Seeheimer Kreis. „Solche Wendepunkte“, sagt er, „gab es einige in meinem Leben.“

Vom Parteilinken zum Bürgerlichen

So verweigerte der Sohn eines Bundeswehrsoldaten und einer Einzelhandelskauffrau nach der Schule den Wehrdienst, obwohl er im niedersächsischen Munster, mit 5000 Soldaten einer der größten Bundeswehrstandorte im Lande, aufwuchs. Lieber machte er Zivildienst bei der Bahnhofsmission in Hannover und spielte in einer Rockband. Noch heute hängt eine E-Gitarre in seinem Büro. Wenn er nachdenken muss, greift er in ihre Saiten. Seine militärkritische Haltung indes änderte sich, als Klingbeil während eines USA-Aufenthaltes die Anschläge vom 11. September 2001 in New York miterlebte. Während seines Studiums der Politik, Soziologie und Geschichte jobbte er im Wahlkreisbüro des damaligen Kanzlers Gerhard Schröder, den er heute einen „Freund“ nennt. Mittlerweile setzt er sich für eine Anhebung des Wehretats ein und hat keine Probleme damit, die Bundeswehr mit Drohnen zu bewaffnen.

Schon 2005 steckte Fraktionschef Peter Struck den jungen Abgeordneten in den Verteidigungsausschuss, in dem er seit seiner Rückkehr ins Parlament 2009 blieb. Nach der Bundestagswahl schien es für kurze Zeit als ausgemacht, dass Klingbeil unter einem Kanzler Scholz ins Verteidigungsministerium einrückt. Doch das Kabinett bleibt einem SPD-Vorsitzenden verschlossen. Die Wahl fiel Klingbeil offenbar nicht schwer: „Die Frage, ob man SPD-Chef werden will, bekommt man in seinem Leben wohl nur einmal gestellt.“

Wenn er am 10. Dezember gewählt wird, will er seine Partei „als moderne Volkspartei verankern, jung, divers und dynamisch“, gab er in der „Welt am Sonntag“ zu Protokoll. Für „ein sozialdemokratisches Jahrzehnt“ gelte es, „eine umfassende programmatische Idee zu entwickeln“. Sein Ziel ist, „dass wir als SPD ein großes gesellschaftliches Bündnis vom Facharbeiter bis hin zu den Aktivisten von Fridays for Future hinbekommen“.

 Auch die Doppelspitze mit der 60-jährigen Saskia Esken dürfte nicht für die Ewigkeit gemeißelt sein. Am dringlichsten dürfte es wohl zunächst sein, dass der junge Co-Vorsitzende seine Tandempartnerin vor ihren berüchtigten verbalen Peinlichkeiten bewahrt. Gut möglich jedoch, dass von den beiden schon bald nur noch Lars Klingbeil übrig bleibt und er sich für die SPD zu einer Lifestyle-Figur wie Robert Habeck entwickelt.






Holger Fuß ist Publizist und schreibt für zahlreiche Zeitungen und Zeitschriften über Politik, Wissenschaft, Kultur und das Zeitgeschehen. 2019 erschien von ihm „Vielleicht will die SPD gar nicht, dass es sie gibt. Über das Ende einer Volkspartei“ (FinanzBuch Verlag).

www.m-vg.de