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Folge 47-21 vom 26. November 2021 / Carlo Schmid / Stets wohlwollend betrachtet und überschätzt / Vor 125 Jahren wurde der Jurist geboren – Das nicht nur intellektuelle Schwergewicht der SPD kam nie richtig zum Zug

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 47-21 vom 26. November 2021

Carlo Schmid
Stets wohlwollend betrachtet und überschätzt
Vor 125 Jahren wurde der Jurist geboren – Das nicht nur intellektuelle Schwergewicht der SPD kam nie richtig zum Zug
Erik Lommatzsch

Ich trieb mich viel auf dem ländlichen Anwesen meines französischen Großvaters herum …“ Auf den ersten Blick erscheint die Aussage aus den Memoiren Carlo Schmids wenig spektakulär. Schließlich war seine Herkunft bekannt und der auch als großer Jurist geltende und sich gern als Gelehrter gerierende SPD-Politiker trug die Liebe zu dem Land seiner Geburt stets demonstrativ vor sich her. 

Allerdings entspricht es nicht der Wahrheit, wenn er in seinem Erinnerungswerk behauptet, er hätte seine Kindheit in Frankreich verbracht. Zwar wurde er am 3. Dezember 1896 im okzitanischen Perpignan als Sohn einer Französin und eines württembergischen Lehrers geboren, doch kehrten die Eltern schon im Folgejahr in die Heimat des Vaters zurück. 

Freiwilliger des Ersten Weltkriegs

Bei den meisten anderen Politikern seiner Generation wäre dieses bewusste und peinliche Abweichen von den Tatsachen für Historiker wohl nicht nur Anlass zur Kritik gewesen. Die Glaubwürdigkeit insgesamt wäre hinterfragt worden. Nicht so bei Schmid, dessen Leben und Handeln durchweg wohlwollend nachgezeichnet wird. So schreibt etwa Petra Weber vom Institut für Zeitgeschichte in ihrer umfangreichen Biographie bezüglich der frühen Jahre: „Im Grunde war es gar nicht so falsch, wenn Carlo Schmid später erzählte, er sei in Perpignan aufgewachsen. Er lebte zwar in Weil der Stadt, aber wuchs auf wie ein Franzose.“ 

 Im Ersten Weltkrieg meldete er sich als Freiwilliger, am Ende war er Leutnant. Nach dem Waffenstillstand wählten ihn seine Kameraden zum Vorsitzenden des Soldatenrats. Die entstehende Republik unterstütze er. In Tübingen wurde er Mitglied der „Sozialistischen Studentengruppe“. Den Weg zur Partei, zur SPD sollte er allerdings erst nach dem Zweiten Weltkrieg finden. Das Studium der Rechtswissenschaft konnte er bereits 1921 beenden. Er arbeitete am Kaiser-Wilhelm-Institut für Völkerrecht in Berlin und habilitierte sich 1929. Tätig war er im württembergischen Justizdienst, eine akademische Karriere war ihm im NS-Staat versagt. 

Allerdings wurde er 1940 Kriegsverwaltungsrat in Lille, im von Deutschland besetzten Teil Frankreichs. Auf diesem Posten verblieb er bis September 1944. 

Auch hier weiß die Geschichtsschreibung nahezu ausschließlich Positives zu berichten. Beispielsweise heißt es in einem Lebensbild, er habe „nun vor der nahezu unlösbaren Aufgabe“ gestanden, „im Dienste einer verbrecherischen Macht die Menschlichkeit zu wahren“. Kontakte unterhielt er zur Résistance und zum Widerständler Helmuth James Graf von Moltke. Für Umsturzversuche habe er „in Lille die erforderlichen Vorbereitungen getroffen“, so die Biographin Weber.

Im Juni 1945 ernannten ihn die französischen Besatzer zum Landesdirektor für Kultus und Unterricht in Stuttgart. Mit Bildung des bis 1952 bestehenden Landes Württemberg-Hohenzollern wurde er dort Regierungschef. Nach der ersten Landtagswahl im Mai 1947, welche die CDU klar gewann, verblieben ihm die Stellvertretung und das Justizressort, das er auch schon zuvor innegehabt hatte. 1949 wurde er in den Bundestag gewählt, in dem er von Anfang an, nur unterbrochen von seiner Zeit als Bundesminister für die Angelegenheiten des Bundesrats von 1966 bis 1969, als Vizepräsident fungierte. 1959 kandidierte er für das Bundespräsidentenamt, unterlag aber dem christdemokratischen Kandidaten Heinrich Lübke. Von 1969 an war er Koordinator der deutsch-französischen Zusammenarbeit. 1972 schied er aus dem Parlament aus.

Besatzungsbeamter in Frankreich

Schmids Affinität zur Sozialdemokratie erschließt sich angesichts seines intellektuell-elitären Selbstverständnisses nur schwer. Dass er immer wieder nicht nur französische, sondern auch italienische und spanische Klassiker übersetzte, ließ der zweifelsfrei Talentierte andere gern wissen. Bundespräsident Theodor Heuss äußerte einmal, Schmid sei der „Tafelaufsatz im Proletarierhaushalt“. Die alliierten Besatzer hätten ihn zu Anfang gern in einer prominenteren Rolle in der Partei gesehen als Gegengewicht zum SPD-Vorsitzenden Kurt Schumacher, der ihnen gegenüber selbstbewusster als Sachwalter Deutschlands auftrat. 

In der Gunst der Westalliierten

Ein Amt, in dem er sich nach seinen Vorstellungen hätte entfalten können und das sich im Nachhinein mit seinem Namen verbindet, erlangte Schmid nicht. Als Verdienst wird ihm das erfolgreiche Bemühen um die (Wieder-)Etablierung der Universität Tübingen als eine der bedeutendsten deutschen Hochschulen zugeschrieben. Er verwendete sich den Alliierten gegenüber für das Besatzungsstatut und hatte wesentlichen Anteil an der Formulierung des Grundgesetzes. Zu nennen wären die Grundrechte, das konstruktive Misstrauensvotum, die Abschaffung der Todesstrafe und das Recht auf Kriegsdienstverweigerung. In der SPD wirkte er gegen den antichristlichen Impetus und gilt als Vor- und Wegbereiter des Godesberger Programms – auf eine etwas unklare Art und Weise, denn als dieses 1959 verabschiedet wurde, hatte er sich schon aus den entsprechenden Diskussionen zurückgezogen. Für die Westorientierung der Bundesrepublik trat er ein, ebenso für die faktische Anerkennung der DDR sowie der Oder-Neiße-Linie als deutsch-polnische Grenze. 

„Spiegel“-Herausgeber Rudolf Augstein titulierte Carlo Schmid aufgrund von dessen beträchtlicher Leibesfülle gern als „Monte Carlo“. Ob er in der Gründungsphase und den ersten beiden Jahrzahnten der Bundesrepublik auch das politische Schwergewicht war, als das er gern dargestellt wird, darf bezweifelt werden. Am 11. Dezember 1979 ist er in Bonn gestorben.